Die Beiträge I (Carlo Strenger) und II ((linke) Idenität) dieser kleinen Serie verhandelten Strengers Sorge um universalistische Kritik und Verteidiung der (wohl bürgerlichen) Freiheit in Zeiten des Rechtsrucks und des Terrorismus sowie um (radikal) linke Identitäten heute. Nun geht’s um die Wurst: können Linke ihre Kritik universalistisch formulieren, können sie irgendetwas als Ihres gegen alle möglichen Anfeindungen verteidigen?
Zunächst ein kurzer Blick zurück, was wollte dieser Carlo Strenger von uns? Er wollte, dass die Linke (in Israel, aber nicht nur dort) wieder in der Lage kommt, die Verteidigung der westlichen Lebensform zu übernehmen und sie nicht dem rechten Lager zu überlassen, das seinerseits selbst die grundsätzlichen Regeln der Kritik nicht beachtet. Als da wären:
- Überzeugungen können kritisiert, gar verachtet werden, Menschen nicht
- Kritik muss auf Sachkenntnis beruhen, nicht auf bloßem Dafürhalten
- Kritik muss grundsätzlich allen und bezüglich aller Hypothesen erlaubt sein
Im ersten Beitrag sagte ich nicht mehr, als dass diese Position nur recht altbackenen kritischen Rationalismus bietet. Altbacken einerseits, weil sogar die simpelste Reflexion auf die Grenzen der Sachlichkeit fehlt. Sachbestände oder Tatsachen gaukeln Objektivität vor, sind jedoch stets ihres Kontextes beraubt, stellen sie doch immer nur einen Ausschnitt von Fakten dar. Besonders Statistiken sind diesbezüglich mit Vorsicht zu genießen. Jedoch solche und weiter gehende Fragen zur Objektivität von Sachbeständen können aus Strengerscher Sicht auch zurück gewiesen werden. Niemand behauptet, Tatsachen wie Billardkugeln in der Hand zu halten, Sachlichkeit und Objektivität stellen sich allein dadurch ein, dass Fakten, die wer auch immer in ihrer Argumentation gebraucht, überprüfbar sein müssen. Das ist alles. Den Gegensatz dazu bildet der Glaubenssatz, nicht die Arbeitshypothese, die genutzt wird, um Fakten zu ermitteln, anhand derer sie geprüft werden kann.
Altbacken andererseits, weil Strenger hier einige wissenschaftstheoretische Prinzipen auf politische Debatten überträgt. Was schon innerhalb der akademischen Communities umstritten war und bleibt – zu denken wäre etwa an die hermeneutischen Wissenschaften – soll nun einfach für alle Debatten gelten. Strenger begegnet diesem Problem in seinem Buch „Zivilisierte Verachtung“ mit der These, dass alle in Debatten damit rechnen müssen, nicht die Expertise zu haben und dementsprechend von den Expert_innen nicht beachtet zu werden. Mangels Universalgelehrter sind wir darauf angewiesen, uns auf das Wissen anderer zu verlassen und die Kränkung des weniger Wissens auf uns zu nehmen. Diese Beobachtungen treffen sicher einen Punkt, aber wie steht es mit dem Wissen, das trotz oder gerade wegen des universalen Anspruchs der Wissenschaften unter den Tisch gewischt wird?
Solche Probleme des Universalismus können in einem Blogpost nicht einmal skizziert werden, deshalb konzentriere ich mich auf eine perspektivische Frage: was bedeutet Universalismus für die (radikale) Linke? Der Gegner der verbreiteten Varianten des modernen Universalismus bleibt die Religion „Jede moderne Gesellschaft muss damit zurechtkommen, dass Religionen fürs Erste ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Lebens bleiben werden.“ Carlo Strenger, Zivilisierte Verachtung, S. 68. Etwas resignierter sogar klingt Habermas, wenn er mit Blick auf das gegenwärtige Amerika schreibt, „konfligierende Werteorientierungen – God, gays and guns – haben offensichtlich handfestere Interessensgegensätze überlagert.“ Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2009, S. 122. Dies, nicht ohne im Anschluss über den öffentlichen Vernunftgebrauch religiöser Gemeinschaften im säkularen Staat zu räsonieren.
Aus Sicht der Linken verschiebt sich das Problem etwas. Nicht der aller Kritik enthobene Glaubenssatz (vielleicht der auch), sondern das in den Schatten der Öffentlichkeit gestellte Leben gehört ins Licht gezogen. Was passiert eigentlich auf den Farmen, in den Fabriken und Büros, den Gefängnissen und Krankenhäusern, den Küchen und Schlafzimmern dieser Welt? Es wird gemunkelt: nicht nur Gutes.
Jetzt wäre es an der Zeit, etwas ins Detail zu gehen, doch jede Formulierung verrät schon eine Tendenz. Sprechen wir vom objektivierten Leben? Von Menschen (und Tieren), die zu Objekten, Gegenständen der Interessen, gar des Hasses anderer gemacht werden? Die deswegen unter Klassenhass von oben, erzwungenem Sex, verachtenden Blicken und Kommentaren oder der Missachtung der Tatsache, dass sie überhaupt existieren, leiden und sich in Not den Angreifern bis in ihre Empfindungen hinein anpassen? Kann sich die unterdrückte Kreatur Subjektivität, ein eigenes Leben, Pläne, einen Willen und Respekt oder Anerkennung der eigenen Bedürfnisse erkämpfen? Oder sprechen wir von Kämpfen zwischen Klassen, Rassen, Geschlechtern, zwischen wachsamen Unterdrückten und selbstgefälligen Mächtigen, die die soziale Welt im Fluss halten? Behaupten wir zudem, dass es viele soziale Welten gibt ohne ein Zentrum der Unterdrückung (sei es selbst die Vernunft), wobei sich in manchen dieser Welten die unterdrückte Kreatur ihr eigenes Leben verschaffen kann. Dort kann sie frei von Beobachtung, Bestaunen und Kontrolle ihr Selbst entfalten. Sei es die Frauen- und Lesbenparty, die Landkommune oder gar ein Ghetto. Integration oder Segregation, das ist doch die linke Frage. (Ein wunderbares Beispiel gibt die Textsammlung „To Redeem a Nation. A History and Anthology of the Civil Rights Movement“, ed. Thomas West, James Mooney, St. James (NY) 1993.)

Ich will und kann es nicht leugnen, ich stehe auf der integrationistischen Seite. Bei aller Berechtigung für geschützte Räume und Gruppen (die ihre eigenen Gefährlichkeiten und Vertuschungen mit sich bringen), letztlich entfaltet sich menschliches Leben durch Offenheit, Verständigung mit anderen, durch ein reflexives Selbstbild, das halbwegs ausgewogen zwischen dem immer auch verfälschenden Blick der anderen und eigenem Fühlen, Denken und Handeln austariert wird. Wenn immer Verständigung mit anderen ins Spiel kommt, gebrauchen wir übergreifende Formulierungen (so wie gerade jetzt), vertrauen auf die Vernunft und Verständigkeit anderer, wägen Gründe und Gegengründe mit Hilfe von Argumenten ab. Das ist die eine Seite der Kritik, einfach die Offenheit für Einwände, für das Spiel mit dem Für und Wider.
Die andere Seite wird oft vernachlässigt, verbogen oder vermieden. Mit der Kritik heben wir etwas ins Licht, geben etwas eine Basis, machen es zum verteidigenswerten Gut. Welches Etwas? Das Leben selbst, oder seine Lebendigkeit, hält die soziale Welt im Fluss. Gerade mit seiner Fragilität und Verletzlichkeit scheint es stets dahin zu streben, anders zu werden. Wir scheinen immer noch was vor zu haben. So missverständlich und verkürzend humanistische Formeln eines Willens sein mögen, der nach Transzendierung strebt, der immer noch einen Entwurf fasst und dabei konstruiert und die Konstrukte realisiert, sie haben einen zumindest verführerischen Kern.
Denn alles Leben gibt sich mit Blick auf den Tod eine Form. Es geht um Ernährung und Verdauung, den Schutz vor Hitze und Kälte, allzu viel Nässe oder Trockenheit, um Partnersuche, die schwierige Bekämpfung von Krankheiten, die Aufzucht des Nachwuchses und den Umgang mit dem Altern. Für menschliches Leben gibt es dabei eben keine konkreten Prägungen oder Lebensformen, die vor Beginn des Lebens fest stehen würden. Diese sind vielmehr kontingent und haben ihre Zeit. Anders gesagt: ob Individuen Kinder wollen oder nicht, vegetarisch leben oder nicht, polyamourös, asexuell oder treu gebunden, all das kann nicht vorweg bestimmt werden. Psychoanalytisch formuliert: menschliches Begehren hat kein festes, gegebenes Objekt, sondern fließt frei, nicht ohne dass es in instabile und sich kreuzende Bahnen gelenkt wird.
Bleiben noch mindestens zwei Fragen offen. 1. Was bedeutet zwei Seiten der Kritik? Handelt es sich dabei nicht um einen Kniff, der zwei Komplexe in fälschlicher Weise vermanscht? 2. Welche gemeinschaftliche Lebensformen bleiben den Linken, mit denen sie sich identifizieren können?
Den zweiten Punkt kann ich hier nicht mehr beantworten; die Nation wird heute nur noch von Betonköpfen hoch gehalten und wurde vielleicht nicht zufällig zusammen mit der Dampflok erfunden. Sie sollte Begegnungen mit anderen einschränken und kanalisieren, nicht sehr erfolgreich, wie sich bis heute erwiesen hat. Alle Stände und Klassen sind nun auch vergangen, nach Adel, Bürgertum und Proletariat steht uns heute nur noch der Mittelstand zur Verfügung, der aber neben (nicht selten durchaus künstlerisch) darstellendem Konsum wenig zu bieten hat. Die Geschlechter nun haben viele Möglichkeiten auf zwei reduziert, sie wirken bei Licht betrachtet unglaubwürdig. Wer glaubt ernsthaft, dass Mädchen nur rosa-weiße Rüschchenkleider und Jungs nur grau-schwarz-dunkelblaue Sweatshirts mögen, dass Mädchen sich nicht fürs Klettern und Jungs nicht für Puppen und Rollenspiele interessieren? Solche Klischees wirken heute kräftig, aber nicht weniger hölzern und einschränkend, eigentlich einschneidend.—Ich weiß ehrlich nicht, in welchem Stand und Habitus ich heute zu hause sein kann.
Der erste Punkt hingegen verlangt eine Klärung. Die zwei Seiten universalistisch-linker Kritik lauten (verdünnt und zugespitzt): zum Kontakt mit anderen, dem Austausch von Blicken, Worten und Argumenten sowie der dafür nötigen Offenheit auf der einen Seite gesellt sich die nicht determinierte Entfaltung von Lebensformen vor dem Hintergrund unserer Bedürfnisse. Wir haben es hier mit zwei Elementen menschlichen Lebens zu tun, das Leben selbst hingegen kann jederzeit als fragil, verletzlich und potentiell ignoriert betrachtet werden. Es bedarf daher des kritischen Schutzes. Die beiden Seiten (oder altmodisch: Ausdrucksformen) des Lebens kommen aber zusammen, indem die Entfaltung der Lebensformen oft die Grenze der Rationalisierung darstellt. In Kontakt mit anderen kommen wir oft dazu, unser Leben zu erklären, Gründe für dieses oder jenes Urteilen oder Handeln anzugeben und zu argumentieren. Dieser Raum der Gründe (Dieter Sturma) bildet einen großen Teil der Verständlichkeit und Verständigung, findet seine Grenze aber am Begehren, am Soma. Alle Lebensformen enthalten einen nicht weiter begründbaren Teil (nicht unbedingt Kern), sie sind nie vollständig erklärbar und auch nicht zur Gänze manipulierbar. Dinge sind gelegentlich einfach so und nicht anders für eine Person. Ich halte es für sehr hilfreich, das anzuerkennen. Vielleicht, so meine Hypothese, wird dann auch den Menschen ein wenig der Druck genommen, sich immer vermehrend zu entfalten, sich stets zu steigern, immer noch mehr Teile ihres Lebens einer allgemeinen normativen Kontrolle zu unterwerfen. Vielleicht beginnen wir dann, Variationen gelegentlich interessanter zu finden als Steigerungen. Womit wir aber letztlich beim mittelständischen Identifikationsproblem wären, eine mögliche Gelegenheit für einen Teil IV.