Schlagwort: Antisemitismus

Inflationierende Ismen

Manchmal hilft ein Blick in den Duden um Gedanken zu klären. Inflation ist natürlich einfach die (Geld)Entwertung. Mich beschlich beim Lesen von Artikeln, Blogposts und Facebookeinträgen in letzter Zeit das Gefühl, dass die Art der Verwendung von Worten wie Sexismus, Rassismus, Ableismus usw. eben diese Worte verwässert und nahezu bedeutungslos macht.

Allerdings geht es nicht so sehr um die Quantität ihrer Verwendung, zumal der letzte Grund, dass das Wort Sexismus in der sogenannten breiten Öffentlichkeit zu hören war, Rainer Brüderle gewesen sein muss. Mit dem Begriff Rassismus verhält es sich schon etwas anders. In jedem Fall besteht das Problem angesichts der tiefen Verwurzelung von Sexismus und Rassismus in den menschlichen Verhältnissen nicht in einer vermeintlichen Häufung ihrer Verwendung.

Noch ein zweiter Fallstrick liegt vor mir: wie leicht neige ich zu Formulierungen wie: ’schon bei‘, ’schon wenn‘ dies oder das vorliegt oder vorgefallen ist, sagen manche Leute … — nein, es kann nicht darum gehen, dass ein Ausdruck des Hasses zu geringfügig aussieht, um den Vorwurf des Sexismus und Rassismus zu erheben. Vielmehr geht es um das Problem, ob Haltungen wie Sexismus und Rassismus überhaupt einen Vorwurf ermöglichen. Als seien sie eine Asympathie wie, ich kann dich nicht leiden, weil du eine nicht-weiße Haut hast oder weil du kein (richtiger) Mann bist. Die sich folgerichtig mit Sensibilisierung, Schulung und vielleicht ein wenig Abwehrkampf beseitigen lässt.

Das gibt es auch. Zur Aufklärung ist hier jedoch eine Unterscheidung angebracht. Rassismus und Sexismus sind etwas ganz anderes als rassistische oder sexistische Diskriminierung. Letztere finden beim racial profiling der Polizei statt, oder wenn eine Frau einen Job nicht bekommt, weil sie ja theoretisch schwanger werden könnte. Leute, die so etwas machen oder verteidigen, haben sicher nicht genug nachgedacht und nachgefühlt, mögen für ihr Verhalten und diskriminierende Regeln in Institutionen pragmatische Gründe geben und ihr Verhalten sollte genau wegen dieser Gedankenlosigkeit und Kurzsichtigkeit abgelehnt und (in futuristischer Perspektive) durch progressive Verhaltensmuster ersetzt werden. Gerade hier kann auch verbal aggressive Gegenwehr mal nicht schaden.

Anders verhält es sich mit Sexismus, Rassismus oder auch dem Antisemitismus. Allein das Suffix -ismus suggeriert, dass es sich bei den genannten Haltungen um halbwegs rationale Weltanschauungen handelt, wie z.B. Liberalismus oder Kommunismus. Dass sie ihres ideologischen Scheins mit Hilfe von Argumenten und einem Gegen-Ismus überführt werden können. Diese Rechnung geht aber so wenig auf wie jede Antidiskriminierungsstrategie, wenn es sich um Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus handelt. (Das Wort Homophobie hat den Vorteil, bereits semantisch auf den Umstand einer Phobie hinzuweisen, die im geringeren Maße rationalisierbar und politisch-moralisch bekämpfbar im Sinne des Stärkens einer politischen Gegenposition ist.) Die Ismen beruhen nicht auf der Tatsache, dass Menschen aufgrund ihrer äußeren Erscheinung anders und vor allem schlechter behandelt werden, als der berühmte weiße, gesunde und heterosexuelle Mann ohne religiöse Zeichen in Kleidung, Frisur etc. Diese Ismen haben eine je eigene Genese, blühen aber gut ohne Anwesenheit ihrer Opfer und mit ihnen kippt jede Schlechter-Behandlung (gegen die sich die Opfer zumindest graduell bewusst wehren können) in affektuelle Verachtung, Entmenschlichung der Opfer, ja möglicherweise in den Versuch, die Opfer zu vernichten. Frauen, Schwarze (Nicht-Weiße), Juden, Transsexuelle, Queere oder Homosexuelle und wahrscheinlich auch Kinder gelten nicht als (volle) Menschen. Sie mögen Objekte wissenschaftlicher Neugier, der Schaulust oder ausgewöhnlicher sexueller Erfahrungen sein, sie selbst zählen jedoch nicht. Schließlich repräsentieren sie für den Istiker etwas, was ihm verboten wurde oder als Teil des Selbst, ja der eigenen Seele verborgen bleiben muss, einen Teil des eigenen Begehrens, zum Beispiel das emotional aufgeladene Puppenspiel des kleinen Jungens (auch: eine Puppe zum Weinen bringen) oder die Weigerung der Juden, sich für die Gemeinschaft zu opfern. Ganz unabhängig davon, was Mädchen wirklich interessiert oder wie sich Juden tatsächlich zu einer Gemeinschaft verhalten, werden ihnen Attribute zugeschrieben, die dem Zuschreibenden lustvoll erscheinen, ihm aber expliziet verboten oder aber (und dies in der Moderne öfter) unheimlich nahe liegen. Besonders gerne wird all das eigene Böse in Frauen, Schwarze, Juden etc. gelegt und es soll mit ihnen vernichtet werden. Das steigert die Gefählichkeit jener Ismen gegenüber der Diskriminierung enorm.

Ich denke, diese Umstände erlauben drei (hypothetische) Schlussfolgerungen:

  1. Opfer von Sexismus oder Rassismus sind nicht unsichtbar. Vielmehr wird ständig über sie gesprochen, wenn auch nicht mit ihnen. Aber die Forderung, sie aus der Unsichtbarkeit ans Licht zu holen, genügt nicht; kein Zitat, keine Erwähnung in einer Literaturliste oder auf die Bühne Zerren gleicht die Folgen dieser Ismen aus.
  2. Sie (die Ismen) haben starke und erstaunliche Folgen für das Selbstbild der Opfer. Ihr Körper, ihr Gesicht, ihre Empfindungen und ihre Gedanken werden genauso affiziert wie die der Sexisten oder Rassisten es von vornherein gewesen sind. Tatsächlich bedeutet weiß zu sein in dieser Welt rassistisch zu sein, aber gerade nicht, weil alle Weißen die Nicht-Weißen schlecht behandeln würden, sondern weil die Grenzen des menschlich Vertrauten noch zwischen den Menschen gezogen wird,¹ weil die Menschen, weiß oder nicht, sich ohne diese Trennlinien ihrer Selbst und ihrer Menschlichkeit (was bedeutet das eigentlich, wo stehe ich?) sicher sein können.
  3. Genau das sagt sich hübsch und klingt nach Anklage. Eine Klage wie: alle anderen … Jedoch genau hier liegt die Crux. Wer kann sich wirklich von diesen Umständen frei sprechen und ebenso frei über andere urteilen? Einerseits bin ich überzeugt, dass sich die große Mehrheit der Leute Mühe gibt, Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus aus ihrem Denken und Fühlen zu verbannen. Auch zum Beispiel Herfried Münkler (sind seine Worte für die Aufregung um Münkler-Watch wirklich interessant genug?), dessen hilflose Ausflüchte, sich nicht mit Frantz Fanon zu beschäftigen, nicht mit noch so viel Theorieaufguss widerlegt werden können. Theoretische Debatten auf der Basis von Rassismus- oder Sexismus-Vorwürfen machen in meinen Augen keinen Sinn. Mit vielen Leuten können solche Ismen nicht diskutiert werden, aber wer über sie debattieren möchte, kann sich trotzdem nicht hinter wolkigen und undurchdachten Phrasen verstecken (Auschluss, Ausgrenzung, Anderssein). Denn andererseits, egal auf welcher Seite der Welten sich ein Subjekt wähnt, es sollte sich stets selbst kritisch in die Diskussion der Option der Verachtung und Entwertung einbeziehen, und über Rassismus oder Sexismus lässt sich theoretisieren, nicht mit ihnen. Selbst ohne den viel geschundenen Satz, ‚wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein‘ zu bemühen, gilt, persönliche Vorwürfe (‚du hast mich schlecht behandelt weil …‘) sind das eine und sollten eigentlich zu einem Moment der Ruhe und zu ernsthaftem Nachdenken führen, Rassismus oder Sexismus sind strukturell in dem Sinne, dass sie zur Zeit das (mit) definieren, was wir alle als menschliches Leben betrachten und gehören von dieser Warte aus untersucht, ohne die eigenen Werte, Gedanken, Empfindungen und Affekte auszuklammern.

Es taugt in dieser Perspektive wenig, Begriffe wie Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus als Distinktionsmittel einzusetzen und sich über andere, angeblich weniger schlaue und reflektierte Leute zu erheben. Der Wert dieser Begriffe sollte wieder gehoben werden: es geht um Entmenschlichung und Vernichtung, um das Grauen und vielleicht die tatsächliche Barbarei. Wer das im Hinterkopf behalten kann – sozusagen den Tod vor Augen – kann vielleicht auch (zumindest für sich selbst) den Wert des menschlichen Lebens ein wenig anheben.

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¹ Na wenn das mal hinhaut.

Neitzel / Welzer, Soldaten

Sönke Neitzel und Harald Welzer haben ein Buch über den Krieg der Wehrmacht 1939-45 auf der Basis bisher nicht oder kaum ausgewerteter Quellen geschrieben: den Abhörprotokollen gefangener deutschen Soldaten in Gefangenschaft der Briten und Amerikaner. Die Gespräche, die teilweise auch von Spitzeln der Alliierten beeinflusst wurden, haben diese Soldaten ‚unter sich‘ geführt, aus ihrer Sicht ohne Aufsicht, nicht in einer Verhörsituation und ohne unmittelbare Folgen. Daher konnten die Soldaten vermeintlich offen sprechen, jedoch sind die Gespräche eben Gespräche unter (männlichen) Soldaten und müssen bestimmten Codes und Erwartungen folgen. Die Autoren betonen auch immer wieder, dass Waffentechnik oder Heldengeschichten im Vordergrund stehen, während die eigenen Gefühle, zum Beispiel Todesangst, oder moralische Reflexionen in den Hintergrund treten. Trotzdem fehlt im Buch leider eine Analyse des Referenzrahmens Kriegsgefangenschaft bei den westlichen Alliierten.

Die Autoren fragen sich, wie ein verbrecherischer Krieg, ein Vernichtungskrieg, in dessen Verlauf nicht zuletzt der Holocaust geplant und ausgeführt wurde, von den kämpfenden Soldaten selbst gesehen wurde. Sie begeben sich wie ethnologische Forscher ins Feld und zeichnen ihre Beobachtungen auf, um zu Hause die Interpretationen anzufertigen. Dabei stehen die menschlichen Möglichkeiten des Verbrechens, der Unmenschlichkeiten – oder Gegenmenschlichkeiten -, eben der Holocaust und andere Kriegsverbrechen im Mittelpunkt der Betrachtung.

Wie die Massentötungen der vor allem sowjetischen Kriegsgefangenen, von vermeintlichen oder echten Partisanen und der Jüdinnen und Juden im Krieg abliefen, ist bereits ausführlich erforscht wurden. Nicht dass hier nicht noch Forschungsbedarf bestünde, die Autoren setzen jedoch andere Schwerpunkte. Wie wird ein Mensch zum Massenmörder? Wie kann ein zivilisierter Soldat oder Offizier einer Massenerschießung beiwohnen, gar selbst schießen, ohne auch nur den leisesten Protest zu erheben oder schlichtweg verrückt zu werden? Wie ist also der Weg vom Menschlichen zum Unmenschlichen zu beschreiben und zu erklären?

Die Antwort, die vor allem schon seit längerer Zeit Harald Welzer auf diese Frage gibt, fällt denkbar einfach aus. Alle Menschen machen das, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Dass heißt, sobald sie in eine soziale Situation versetzt werden, in der Gewalt und Töten zur Normalität gehört, sogar erwartet wird. Soldaten befinden sich ganz einfach ein einem anderen Referenzrahmen als PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, Postangestellte oder TischlerInnen. Der Begriff Referenzrahmen zielt auf das sozial hergestellte Verständnis einer Situation, aus der niemand so leicht auszubrechen vermag. Wenn Krieg ist, ist Krieg; Gegner werden vernichtet, weil das eigene Leben stets in höchster Gefahr schwebt, und schon die bloße Vermutung aufgrund fehlender Uniformen oder fremder Sprache, jemand könnte dein Feind sein, reicht zum Töten aus. In einem Parlament würde ein solches Verhalten, gelinde gesagt, auf Unverständnis stoßen.

Damit fallen alle in den letzten Jahrzehnten mühsam herausgearbeiteten und vielfach diskutierten Erklärungsmuster weg. Weder ein Zivilisationsbruch, noch Weltanschauungskrieg, keine Volksgemeinschaft oder eliminatorischer Antisemitismus treibt die Männer zum Töten. Der zweite Weltkrieg war ein Krieg wie andere auch – die Autoren verweisen öfter auf den Vietnamkrieg oder den Irakkrieg 2003.

Oder liegen die Dinge doch nicht so einfach? Recht haben die Autoren mit der Feststellung, das Unmenschliche liegt den Menschen näher als es humanistische Hoffnungen erwarten lassen. Gewalt tritt zwischen Menschen als ein Mittel auf, das in der Tat jeder gegen jeden einsetzen kann und auch in der ihm oder ihr passend erscheinenden Situation einsetzt. Sie wird nicht als Trieb von einer zivilisierenden Moral unterdrückt, bricht sich aber hier und da eine Bahn ans Tageslicht. Nein, es gibt Situationen, die die Anwendung von Gewalt erlauben und erfordern und es solche, die es nicht tun. So spielt der jeweilige Referenzrahmen eine entscheidende Rolle.

Problematisch wird es aber, wenn die Autoren versuchen, wirklich alle weiteren Zusammenhänge auszublenden. Schwammig werden dann auch die sonst so klaren Formulierungen. Bezüglich der Rolle von Ideologien als Motivatoren zum Töten, besonders dem Antisemitismus schreiben die Autoren: „In einer Gesellschaft, in der die kategoriale Ungleichheit von Menschen das staatliche Handeln leitet, als wissenschaftlicher Standard gilt und massiv propagandistisch befeuert wird, werden gruppenbezogene Stereotype zementiert – aber, wie unser Material zeigt, keineswegs in dem Ausmaß, wie Goebbels, Himmler oder Hitler sich das gewünscht hätten und wie die Holocaustforschung lange Zeit nahegelegt hat. Ideologie bildet lediglich eine Grundierung von Einstellungen, über deren Handlungswirksamkeit man wenig weiß.“ (S. 298) Einerseits bleibt unklar, woher die Neitzel und Welzer den Schluss nehmen, die Soldaten seien weniger ideologisiert geworden, als von den Führen gewünscht. Unabhängig von den Wünschen Himmlers oder Hitlers springt einem der Antisemitismus in etlichen Zitaten der Soldaten im Buch geradezu ins Auge. Was meinen die Autoren außerdem mit ‚Handlungswirksamkeit‘? Wollen sie tatsächlich Ursache und Wirkung bei Massentötungen fixieren? Dass Vorurteile, Ideologien und Antisemitismus dennoch einen Einfluss auf Handlungen ausüben, stellen auch Neitzel und Welzer fest. „[Die Soldaten] orientierten sich vor allem am Referenzrahmen von Militär und Krieg, in dem Ideologie nur eine nachgeordnete Rolle spielt. Sie haben einen Krieg im Referenzrahmen ihrer, der nationalsozialistischen Gesellschaft geführt, was sie, wenn sie in die Situation kamen, auch zu radikal gegenmenschlichen Handlungen veranlasst hat. Um die auszuführen – das ist das eigentlich Beunruhigende –, muss man aber weder Rassist noch Antisemit sein.“ (S. 299) Mit dieser Differenzierung der Referenzrahmen gewinnen die Autoren wenig. Wie ‚veranlasst‘ der nationalsozialistische Referenzrahmen Soldaten in bestimmten Situationen zu töten? Was ist der Unterschied zwischen ‚wirken‘ und ‚veranlassen‘? Um zu morden muss man nicht Rassist oder Antisemit sein, aber was ist, wenn es jemand ist und dann ihm oder ihr untergeordnet geltende Russen und Juden tötet? Das Problem des Antisemitismus, der Volksgemeinschaft und allgemein der Vorurteile schleicht sich wieder heran und bleibt durch soziologische Abwägungen nach Art der Autoren unbearbeitet.

Fazit: Ein sehr lesenswertes Buch – vielleicht abgesehen von den langen Passagen über Flugzeugmotoren oder Orden. Aber vielschichtigere Methoden hätten auch weitere Dimensionen der soldatischen Mentalität der Wehrmacht freigelegt, wie sie auch in den Zitaten aufscheinen, die die Autoren bringen. Wie Antisemitismus, Misogynie und Rassismus als Moral internalisiert werden können, das hätten tiefenhermeneutische und psychoanalytische Verfahren besser gezeigt.

Sönke Neitzel, Harald Welter: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt. a.M. / S. Fischer Verlag 2011