Schlagwort: psychosomatisch

Arno Gruen, Ein früher Abschied

Die Lektüre von Arno Gruens Buch „Ein früher Abschied. Objektbeziehungen und psychosomatische Hintergründe beim Plötzlichen Kindstod“ ging mir nahe. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass es in diesem Buch um grundsätzliche Fragen der Beziehung von Eltern zu ihrem Kind geht, um Fragen der Liebesverhältnisse und auch der gegenseitigen Wertschätzung in unserer Gesellschaft. Kann eine Kultur der Lieblosigkeit Kinder sterben lassen? Der plötzliche Kindstod (PKT) tritt auf, wenn ein Baby, oft zwischen dem 2. und 6., seltener bis zum 12. Lebensmonat, im Schlaf stirbt, jedoch keine eindeutige Todesursache wie eine Krankheit festgestellt werden kann. Diese Kinder scheinen einfach mit dem Atmen aufgehört zu haben. Sie sind zwar erstickt, aber es gibt dafür keine weiteren sichtbaren Ursachen im Körper. Auch sind diese Babys nur sehr selten blau angelaufen oder zeigen Zeichen eines Todeskampfes. Gruen versucht nun, diesen unheimlichen Tod psychosomatisch zu erklären.

Gruens These zum plötzlichen Kindstod kurz zusammengefasst: Während des Schlafs ganz allgemein treten immer wieder Phasen des Atemstillstandes und der Sauerstoffunterversorgung auf. Dann muss entweder die Atmung wieder einsetzen oder der schlafende Mensch aufwachen. Bezüglich der Ausbildung von Reizschwellen zum Aufwachen liegt aber ein komplexes neurologisches Muster vor. Während eine steigende Stimulation zunächst die Aufwachschwelle senkt (was intutitiv verständlich ist – mehr Lärm bedeutet rascheres Aufwachen), wird sie durch eine sehr starke Stimulation eher gehoben. Ab einem vermutlich individuell sehr verschiedenem Stimulationslevel kann also einem Säugling neurologisch das Aufwachen erschwert sein. Nun wird es interessant. Zu diesen Stimulationen zählt Gruen sowohl zu verarbeitende Unterlassungen von Reaktionen auf das Kind (besonders seine Wünsche nach Nähe und Hautkontakt), als auch Todeswünsche, beides ausgehend von der hauptsächlich das Kind versorgenden Person. Tritt nun eine Phase des Atemstillstandes ein, so kann das Kind unter solchen Umständen erschwert erwachen und kann an diesem Atemstillstand ersticken. Das betroffene Kind muss also wiederholt, dauerhaft und grundsätzlich nicht verstanden werden. Etwas metaphorischer ausgedrückt heißt das, die an plötzlichem Kindstod gestorbenen Kinder wurden in so lieblose Verhältnisse geboren, dass sie auch leblos werden mussten, sie haben ihr Leben aufgegeben, wie Tiere, die an der Auswegslogikeit in einer Falle sterben. (Diese Fallen gibt es wirklich. Ich kenne noch Mausefallen, in denen die Mäuse an Herzschlag starben, weil sie in einer Röhre gefangen wurden, aus der sie nicht mehr herauskamen. Die Ausgänge waren mit Türchen versprerrt, sie sich nur nach innen öffen lassen. Läuft eine Maus in eine solche Röhre, die in einem ihrer Gänge platziert ist, wird sie nicht verhungern oder verdursten, sondern viel schneller an Verzweiflung sterben.)

Gruen hat eine eigene Untersuchung durchgeführt, die die Umstände des plötzlichen Kindstodes von ihrer psychosozialen Seite her beleuchten soll. Er führte 16 Interviews mit Eltern von am PKT gestorbenen Kindern durch sowie 5 mit Eltern von Kindern, die sogenannte PKT-Krisen überlebt haben, also beinahe an Atemnot im Schlaf gestorben wären, aber durch Wachrütteln oder Ähnliches gerettet wurden. Eine methodische Schwierigkeit dieser Untersuchung sehe ich darin, dass Gruen nur ein einziges Interview mit den Eltern geführt hat, aus ihm aber ziemlich weitreichende Schlussfolgerungen über das (Zusammen)Leben der Eltern zieht. Schlussfolgerungen von der Art, wie sie selbst in einer langen Analyse nur sehr vorsichtig gemacht werden.

Gruens ausführlicher Bericht von diesen Interviews ist aber sehr interessant. Mir fielen folgende Phänomene auf: Die Eltern erzählten häufig, dass ihre Kinder in einem Alter von 2-6 Monaten in einem eigenen Zimmer schlafen. Sie berichten außerdem, dass sie das Kind in der Wohnung oder im Haus ganz alleine gelassen haben, selbst wenn es geschrieen hat. Sehr auffällig fand ich außerdem sich häufende Eindrücke der Mütter und Väter von starrem und durchdingendem, gar unpersönlichem Blick der Kinder. Der Blick sei durchbohrend und nicht auf sie (die Eltern) gerichtet gewesen. Auch vor einer allgemeinen Lebendigkeit des Kindes haben viele dieser Eltern Angst gehabt oder haben sie zumindest (nach Gruens Eindruck) auffällig negativ betont. Schließlich stolperte ich aber auch über einen verwirrenden Eindruck. Einerseits beschrieben viele der Eltern ihre Kinder als vorher ganz gesund und sich ’normal‘ entwickelnd, andererseits häufen sich auch Erwähnungen von ergebnislosen Arztbesuchen kurz vor dem Tod der Kinder oder sehr frühe Kankenhausaufenthalte nach einer schweren Geburt oder Ähnlichem.

Gruen verknüpft diese Berichte mit seinen Eindrücken von den interviewten Eltern. Vor allem Gefühllosigkeit und mangelnde Empathie für die Kinder, aber auch verdeckte Aggressionen und teils offene, teils unbewusste Todenswünsche gegen die Kinder seien ihm begegnet. Was kann man aber aus all dem schlussfolgern – wie kann es gedeutet werden?

Es überrascht kaum, dass Gruen wütende Reaktionen von PKT-betroffenen Eltern erhielt. Schließlich lassen sich viele Details seiner These zum plötzlichen Kindstod (aus dem Zusammenhang gerissen) als klassisches Mother-Blaming verstehen. Auch sein Hinweis, dass er eigentlich die patriarchale Kultur und das von Männern immer wieder hoch gehaltene und verstärkte Mutterideal für den PKT verantwortlich hält, kann aufgesetzt wirken, weil die Väter einfach nicht im Fokus der Untersuchung stehen.

Stellungnahmen gegen Gruens Buch, die mangelnde Wissenschaftlichekeit beklagen und daher gar nicht erst in medias res gehen, sind von der ‚Gemeinsamen Elterninitiative plötzlicher Säuglingstod (GEPS) Deutschland e.V.‘ online gesammelt worden. Verschiedene Reaktionen auf das Buch hat Dr. Paul Runge zusammen gestellt, als er in einem offenen Brief an Autor_innen einer Studie zum PKT an der Universität Münster auf Gruens Buch hinwies.

Gruen selbst hält es für „völlig abwegig, die Mütter schuldig zu sprechen.“ (S. 50) (Er sieht in den Müttern eher die Opfer einer in der Gesellschaft fest verankerten Machtideologie.) Weder Todeswünsche der Mütter gegen ihre Kinder, noch ihre ablehnende Haltung gegenüber den Säuglingen betrachtet Gruen als kausale Ursachen des plötzlichen Kindtodes. (Vgl. S. 117 und S. 133f) Welche Rolle spielen dann aber verdrängte Todeswünsche gegen das eigene Kind?

Wenn die Mutter dem Kind keine starken bewußten Gefühle entgegenbringt, die ihm eine intensive Erfahrung emotionaler Bedeutsamkeit vermitteln, dann muß es in ihren unbewußten Regionen nach Nahrung suchen. Was es sucht und braucht, ist Intensität, und diese Intensität findet es dann in den Todes- und Zerstörungsphantasien, die seine Mutter aus ihrem Bewußtsein verdrängt hat. [Und:] Mit Todeswünschen kann man nicht leben. (S. 141f und S. 143)

Gruen erklärt, dass diese Todeswünsche besonders leicht dann entstehen können, wenn die Mutter selbst so liebesbedürftig ist, dass das Kind als Bedrohung für die eigenen Bedürfnisse wahrgenommen wird. Das Kind offen als Problem oder gar Feind zu sehen, verbietet der Mutter jedoch die oft vom Vater/Mann aufgedrängte Mutterrolle einer liebenden und fürsorglichen Mutter, die diese dann auch mit Hingabe spielen. Darum, so Gruen, wirken die von ihm intervieweten Mütter gefühllos gegenüber ihren Kindern und sogar ihrem Tod. Ihre eigene Bedrüftigkeit steht im Mittelpunkt ihrer Emotionen und ihrer Wahrnehmung. So können für das bedürftige Baby auswegslose Situationen entstehen, in denen sie gezwungen sind, sich auf ihren Tod zu konzentrieren.

Ich möchte nun zwei Punkte herausstreichen, die für mich strittig wirken. Welche Rolle können Todeswünsche tatsächlich beim Tod des eigenen Kindes spielen und wie deutet Gruen den tatsächlichen Tod der Kinder? (1.) Wie sehr hat sich Gruen von der patriarchal definierten Mutterrolle tatsächlich emanzipiert? (2.)

1. Zwei Einwände kamen mir bei der Lektüre von Gruens Buch ständig in den Kopf. Todeswünsche haben zum einen wohl die meisten Eltern gegen ihre Kinder – auch ich hatte einen solchen Traum, jedoch ist mein Kind daran nicht gestorben. Ich glaube vor allem nicht, dass Todeswünsche per se damit einher gehen, dass das Kind nicht geliebt und nicht sein gelassen wird. Zwar gilt für Gruen, dass besonders verdrängte Todeswünsche Kinder in die Auswegslosigkeit treiben können, aber damit eröffnet er letztlich ein ganz neues Feld. Denn eigentlich ist die Verdrängung von Gefühlen allgemein, auch der eigenen Wünsche, der Hintergrund für einen lieblosen Umgang mit dem eigenen Kind. Von ihren eigenen Gefühlen und Wünschen abgeschnittene Eltern können für ihre Kinder zur Lebensbedrohung werden. Dieses Muster halte ich für die plausiblere Fährte zur psychsomatischen Erklärung des PKT als konkrete Todeswünsche oder überhaupt Inhalte dieser unzugänglichen Gefühle und Wünsche. Mein zweiter Einwand bezieht sich ebenfalls auf das Abgeschnittensein der Eltern von sich selbst. Gruen zieht bei der Deutung seiner Interviews zu wenig in Betracht, dass ja die Kinder tatsächlich gestorben sind, die Eltern also trauern. Auch werden sie Schuldgefühle haben (vgl. S. 175-185), die sich konkret auf den Tod ihrer Kinder beziehen, und sie, besonders wenn diese wiederum verdrängt werden, nur erschwert trauern lassen. Schuld bezieht sich naturgemäß auf eine_n selbst, so können die Gestorbenen selbst leicht außen vor geraten. Gruen fiel dieses Abgeschnittensein der Eltern von den gestorbenen Kindern auf. Er bedenkt jedoch den Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Kindstod und einem massiven Auftreten von Schuldgefühlen bei den Hinterbliebenen nicht. Weil der PKT eben keine erklärende Ursache für den Tod des Kindes ist, erschwert er die Verarbeitung des Geschehenen erheblich und legt für den Trauerprozess den Rückgriff auf Schuldgefühle und -zuweisungen nahe.

2. Nach meinem Eindruck konnte sich Gruen trotz aller kritischen Diskussion nicht von einer traditionellen Mutterrolle als Idealbild trennen. Nicht nur, weil er immer wieder betont, wie sehr Kinder Liebe und ungeteilte Aufmerksamkeit von der Mutter brauchen, was so pauschal formuliert natürlich stimmt. Ihm ist vor allem ein Widerspruch nicht aufgefallen, der mich nachdenklich gestimmt hat. Das Ideal einer Bindung zwischen Mutter und Kind, so Gruen, sei die gegenseitige Liebe und ein Austausch. Zum (eben nicht starren) Blickaustausch zwischen Mutter und Kind, genannt „Tanz“ der Augen, schreibt er: „Dieser Augentanz ist der grundlegende Akt des Austauschs zwischen Mutter und Kind, der die Bindung zwischen ihnen begründet und aufrecht erhält, und konstituiert damit das Urmodell des Liebesaktes.“ Was, wenn nicht diese Analogie, unterstellt dieser Bindung Parität oder, negativ ausgedrückt, Machtferne? So sehr Bindung, Liebe, „Raum für freie Entfaltung“ (S. 125) und mit ihnen ein positives Selbstbild der eigenen Person auf Gegenseitigkeit und Austausch beruhen, ich bezweifle sehr, dass dieser Austausch zwischen Mutter und Kind paritätisch sein kann. Auch für Gruen sind nämlich die Rollen von Mutter und Kind nicht austauschabar: „Wenn eine Mutter das Bemuttertwerden selbst hat entbehren müssen, dann hat sie Schwierigkeiten, es ihren eigenen Kindern zu gewähren. Es kann dann zu einer unbewußten Umkehrung der Rollen kommen: Die Mutter erwartet von ihrem Kind die Liebe, die ihre einst vorenthalten wurde und die sie nun dem Kind geben müsste.“ (S. 144, vgl. auch S. 118-125) Nun handelt es sich anscheinend doch um eine spezielle Liebe, die davon geprägt ist, dass Erwachsenen- und Kinderwelt aufeinander treffen. Die Mutter (respektive die versorgende Person) kann viel mehr als das Kind, wie zum Beispiel die Windeln wechseln, füttern, Wärme und Kälte regulieren usw. Anders das Kind, das sie zwar an allerlei Verhalten und Wunschbefriedigungen hindern kann und das lediglich über seine Hilfsbedürftigkeit Macht ausüben kann (und diese wohl kaum instrumentell). Allerdings hindert das Kind mit seiner Hilflosigkeit durchaus die versorgende Person an der Befriediung einiger Bedürfnisse, wie beispielsweise dem Schlafbedürfnis. Die Komplexität dieser Begegnung macht die Bindung zu einem Kind eine Herausforderung und das besonders für patriarchalisch-heterosexuell geprägte Männer/Väter. Väter überlassen diese Begegnung lieber den Müttern aufgrund von Ohnmachtsgefühlen ihnen gegenüber, weil und zumal die Mütter dieser Begegnung aufgrund von Schwangerschaft und Geburt (sowie wenn sie mit der Brust stillen) ohnehin ausgesetzt sind. Nach meinem Eindruck kann eine lebendige und von Gleichwertigkeit geprägte Bindung zwischen Eltern und Kind, sowie zwischen den Eltern, zumindest erleichtert werden, wenn sich Väter und Mütter auf diese Herausforderung einlassen.

Die verwendete Ausgabe: Arno Gruen, Ein früher Abschied. Objektbeziehungen und psychosomatische Hintergründe beim Plötzlichen Kindstod, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1999.