Schluss

Dieses Blog wird nicht mehr erweitert. Ich habe mich entschlossen es aufzugeben und nur noch online dümpeln zu lassen.

Ich habe nie eine Linie für das Blog gefunden. Zwischen kleineren Geschichten, Persönlichem, Buchbesprechungen, Polemiken und manchmal etwas ins Ideenreich abschweifenden Texten konnte ich mich weder thematisch, noch in der Form entscheiden. Die Aussichten für eine solche Entscheidungen kommen mir auch nicht rosig vor, so lange ich weiter an diesem WordPress-Format herumdoktere.

Also, kurz und schmerzlos: es war auch eine schöne Zeit, wenn auch oft zu sehr durch den Blick auf eine mögliche Leserschaft geprägt. Zumindest ich habe aber einiges gelernt und Google vergisst sowieso nie etwas. Schon jetzt genieße ich die neue Freiheit, die durch die Aufgabe entstanden ist. Viele Grüße!

Trotzphase

OK, viele Bürger_innen in Deutschland befinden sich gerade in der Trotzphase. Während sie erwachsen sind und durch einfaches Nachfühlen und ein wenig Reflexion diese Phase durchstehen könn(t)en, hat mein Kind es zur Zeit wirklich manchmal schwer. Alle Eltern von Kindern, die 2-3 Jahre alt sind, kennen solche Phasen.

Das Kind entwickelt seinen Willen, will aber gerade nicht bei dem mitmachen, was die Eltern wollen. Trotz wird dieses Nein genannt, weil es – als Machtkampf verstanden – so deutlich wenig Chancen hat, aus sich heraus gegen den Willen der Er-, nein, Aufziehenden zu bestehen. Ohne ihre Gnade kein Nein und kein Ja. Oft wird dem Kind allein aus diesem Grund zugestanden, eine schwere Phase zu haben. Eigentlich liegt sie jedoch darin begründet, dass die Erziehenden so oft nein sagen. Dann bricht ehrliches Entsetzen aus: unter Tränen und lautem Wiederholen der Forderung versucht das Kind, seinen Willen doch noch zu bekommen. Es geht ihm wirklich für einen Moment lang nicht gut.

Ich denke, für Schwierigkeiten dieser Phase gibt es einen wesentlichen Grund. Unser Kind hat über zwei Jahre lang vor allem mitmachen wollen. Klar gibt es den neugierigen Blick über die Tischkante – was passiert denn da gerade? kann ich das auch? – immer noch. Aber jetzt möchte er machen. Selbst machen. Das Problem ist nur, wie findet er heraus, was genau er machen möchte? Es gibt so viele, oft widerstreitende oder zumindest einander ausschließende Bedürfnisse und Ansinnen, von den Gefühlen ganz zu schweigen. Die Milchflasche, die Wasserflasche, ein Schnuller; ach, ein Zug, eine Mülltonne, ein Stück Kartoffel. Welchen Wunsch soll er denn nun versuchen, zur Anerkennung zu bringen? Dass er bei seinen Eltern mit seinen Wünschen etwas bewirken kann, steht fest, aber jetzt geht es darum, sich aus dem für ein Kind reichhaltigen Schatz an Möglichkeiten einige zu eigen zu machen. Zusammen mit den Eltern. Vielleicht kommt daher das Thema hergeben/weggeben oder behalten/zurückhalten (anale Phase) in dieser Zeit. Wir können ihm alle möglichen Dinge geben, aber dafür wird er früher oder später Wünsche hergeben müssen, andere behalten können. Sehr gegenständliche Wünsche: Essen, Spielzeug, Bilder, aber auch Musik (lange Zeit kann er damit verbringen, die CDs durchzuprobieren und dabei jedes Mal in eine neue Welt einzutauchen) oder kuscheln, vorlesen und ausruhen.

Ich glaube, deswegen hat er und haben wir es gerade nicht nur leicht, wenn es auch wenige Erlebnisse sind, die so furious beeindrucken, wie ein junger Mensch, der sich allmählich einen eigenen Willen, ein freies Ich aufbaut.

Verteidigung der Kindheit in der Mittelschicht

Wer über das eigene Kind schreibt, überhöht es und das Leben mit ihm leicht, greift manchmal gar zur Schönfärbung. Die eigenen Kinder werden meist geliebt und zur Liebe gehört die Überhöhung, gerade wenn über sie geschrieben wird.  Eine reine Partnerschaft zum Kind wird sich kaum entwickeln. Daran lässt sich schwer rütteln und ich habe auch gar nichts dagegen.

Wird jedoch inzwischen auch die Kindheit im Allgemeinen überhöht? Vielleicht als  Ursprung und Reservior alles Menschlichen betrachtet? Beispiele wären Aussagen wie, wie schön, dass Kinder noch innehalten und die Kleinigkeiten der Welt in aller Zeit betrachtet (und dadurch wertschätzen?) können. Oder: Mein Elterndasein hat mich belehrt, wie schön es sein kann, Zeit und Energie geben zu können, ohne sie prompt vom Empfangenden zurück zu verlangen. Auf der anderen Seite haben schon Autorinnen wie Shulamith Firestone gegen alle Varianten der Entdeckung der Kindheit geäußert, dass sich dahinter nur der Versuch verbergen würde, die jungen Menschen möglichst effektiv zu unterdrücken. (Firestone, Nieder mit der Kindheit, Kursbuch 34 (1973), S. 1-24.)

Solchen Einwänden stehe ich skeptisch gegenüber un herrschted halte es für einen Verdienst der Neuzeit, die Bedürftigkeit der Kinder heraus zu stellen und so Vernachlässigung von Kindern eher zu verurteilen als Überfürsorglichkeit. Konkret fand ich die Kinderwelt immer stark und angenehm unterschieden von der übrigen Umgebung. Wie beim Babyschwimmen. Dort taucht man in eine extrem kinderorientierte Atmosphäre, die besonders beim Verlassen des Schwimmbades auffällt. Alle anwesenden Erwachsenen sind auf das Wohlergehen der Kinder konzentriert, darauf sich in Geduld und Ruhe den Bedürfnissen der Babys zu widmen und natürlich auf das, was die Kinder tun, von sich geben, wie sie schauen und sich bewegen. Nach meinen Erfahrungen rastete dort nie jemand aus, wurde wütend oder auch nur genervt. Schon wegen der sozialen Kontrolle auf so engem Raum nicht. Danach fühlte ich mich fast immer wie in Watte gepackt, glücklich, zwar erschöpft, aber auch ein wenig außerweltlich weich gestimmt. Eben für mein Baby angepasst.

Jetzt, über zwei Jahre später, komme ich noch weniger umhin zu konstatieren, dass mein Kind in seiner eigenen, einer Kinderwelt lebt. Er betrachtet ganz andere Dinge und diese ganz anders als Erwachsene, als ich. Seine Gefühle dabei sind heftiger und weniger kontrolliert wie auch die Reichweite seines Blicks viel kürzer ist, als der des erwachsenen Blickes. Es zählt das Nebengeräusch, die gerade entdeckte Blume, das ‚möchte eine Milch‘ und solche Dinge zählen fast alles. Dazu kommen noch Berührungen, grobe und weiche Arten, sich anzufassen, der Blick und die Stimme des Gegenüber, auf die das Kind sehr genau achtet. Über sie wird ein Gutteil der Beziehung hergestellt und von Situation zu Situation neu bestimmt. (Der Rest an Beziehung bildet sich durch Erinnerungen, wie ich annehme.) Seine Welt besteht aus seinen Eltern, seinem Zuhause (unserer Wohnung) und seinen (Spiel)Sachen, zu denen er eine sehr enge und imponierende Beziehung aufgebaut hat. Ich muss mir immer wieder klar machen, dass dies die Kinderwelt ist, die Welt meines Kindes und sie kommt mir dabei auch etwas fremd vor. Der Kontrast zur Wirtschaftswelt, die ich durch den Job auch immer mehr kennen lernen (muss), fällt beeindruckend aus.
In der Wirtschaftswelt achten alle auf ihre eigene Haut. Viele Angestellte einer Firma frotzeln sich den Tag über ständig an. Wenn es Ernst wird und ein Problem auftaucht, haben alle alles richtig gemacht, die anderen hingegen haben es falsch gemacht. Firmen sind Haifischbecken. Nach außen herrscht Gemeinschaftsgeist, innen jedoch Konkurrenz. Doch um was? Das habe ich noch nicht eruieren können, vermutlich geht es um schwer Zählbares wie Härte oder Durchsetzungskraft, eher nicht direkt um Löhne oder das Ansehen beim Chef/bei der Chefin.

Oft denke ich über die Arbeitsatmosphäre – nicht die alltägliche im Büro, sondern über die in der Arbeitswelt –, dass dies nur eine Männerwelt ohne Zukunft sein kann, weil es auf diesen Krampf nicht ankommt, sondern auf das, was mein Kind tagtäglich mit aller Hingabe, aber auch ohne Wahl, tut: sich einen Platz in der (sozialen) Welt zu suchen und dabei die eigenen Fähigkeiten auszuloten.

Ich würde gerne eine Verherrlichung der Kindheit vermeiden. Aufzuwachsen (nicht nur in dieser Welt, wie es oft heißt) bringt Schmerzen mit sich und ist ungeheuer anstrengend. Nicht umsonst geht er abends höchst erschöpft ins Bett. In dieser Lebensphase entsteht zum Beispiel Angst, dieses starke Gefühl des halb Verstehens, des Bemerkens von etwas, dessen Sinn in weiter Ferne liegt, es so gar nicht greifen zu können und daher von sich wegstoßen wollen.

Was kann dann Kindheit für Erwachsene heute und hier (an der Ostsee, in Westeuropa, im Westen?) bedeuten, was, einen Platz in der sozialen Welt zu suchen? Wo Erwachsene nun einmal Weitblick und Triebaufschub gelernt haben (Kultur schließlich, das kann ruhig gegen die oberflächlichen Befreiungstheorien betont werden). In die Kindheit Werte wie Wahrhaftigkeit und Mitgefühl oder Maximen wie kümmere Dich um die Bedürftigen zu legen, kommt mir willkürlich und zu kurz gesprungen vor. Forderungen, wie: Wir müssen lernen den Dingen ihre Zeit zu geben, zu abstrakt.

Diese Dinge mögen ihre Relevanz haben, aber sie klingen hier zu sehr nach allgemein sowie zeitlos Menschlichem. Vielleicht enthüllt der Blick vieler auf (ihre) Kinder einiges. Ich freue mich, wenn sich mein Kind wissbegierig zeigt, lernt und vor allem lernt, alleine mit Gegebenheiten und Vorhaben zurecht zu kommen. Er soll also etwas leisten können. Gleichzeitig gilt ihm der fürsorgende Blick, das intensive Mitleid mit der Trauer, die er zeigt, wenn er scheitert. In seiner Kindheit kommt mir das ständige Entwickeln neuer Fähigkeiten unter der Bedingung begrenzter menschlicher Macht gut und richtig vor. Menschliche Macht soll einfach bedeuten, etwas tun oder bewirken können. Diese Grenzen kennen wir keineswegs in jeder Situation, wir müssen sie vielmehr oft ex post und bestürzt zur Kenntnis nehmen. Aus diesem Drive und dieser Spannung kommen wir heute nicht recht heraus, ein sicherer und fragloser Platz in der sozialen Welt ist uns spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verwehrt. Ebenso ein eindeutiges, geografisches zu Hause.

Zumindest die Mittelschicht kann sich auf diese Weise recht gut in ihren Kindern spiegeln, soweit sie sich nicht den Blick auf diese wesentlichen Prozesse der Identitätsnahme durch in Bedrängnis geratene, männliche Konkurrenzk(r)ämpfe verstellen lässt. (Nichts gegen Konkurrenz an sich, sie ist ein soziales Faktum, vergleichbar mit Mobilität, aber alles gegen das unnötige Ankarren anderer, ohne auch nur ein Minimum an Reflexion und Distanzierung aufzuwenden.) Die Antennen in die Richtungen der anderen zu schwenken, kann heißen, sich Teile ihrer Lebenswelt lernend anzueignen und dabei die Grenzen der Nachahmung zu spüren vermögen. Der Preis für die engmaschige Kontrolle (die ja auch heute Eltern Kindern angedeihen lassen) mag nicht gering sein, in der Mittelschicht glaubt man, alleine durch Aufnahmefähigkeit immer mächtiger werden zu können. Die Grenzen dessen und die Schmerzhaftigkeit ihrer Erfahrung verdient allen Respekt. Ich kann nicht mehr nur sagen, geht wandern oder lest Bücher oder setzt euch für Gerechtigkeit ein, aber ich könntemuss sagen: Schätzt euer suchendes, über vielfache Bindungen verteiltes und dezentrales, ständig an Grenzen stoßendes Leben wie ihr, nicht zufällig, eure Kinder schätzt.

Zum Hass auf Fremde im aufgeklärten Mittelstand

Berichte über Menschen, die gegenwärtig versuchen in die EU und namentlich nach Deutschland zu flüchten, sowie über den rassistischen Alltag in Deutschland sind Legion. Viele befassen sich mit der sogenannten Flüchtlingskrise, die gründlicheren deuten sie zu einer politischen Krise um, die auf institutionellen Versäumnissen beruht. Bund, Länder und Kommunen haben sich einfach (teilweise bewusst) nicht auf die Flüchtlinge vorbereitet. In dieser Situation – viele Menschen drängen sich in Lagern, aufgelassenen Gebäuden und Notunterkünften – reagieren manche Deutsche panisch, aggressiv, rassistisch. Auch in der englischsprachigen Presse finden wir lesenswerte Berichte über Merkels Position in der Flüchtlingspolitik (wankend, sich ideologiefrei gebend, aber agierend), über Dresdens Probleme, sich ein weltoffenes Weltbild jenseits eines imaginierten Opferstatus‘ zu verschaffen oder wie Europas Staaten anstreben, die Flüchtlinge vor allem polizeilich-kontrollierend, geradezu panoptisch zu umhegen.

Trotz allem, was wir jetzt an Wissen ansammeln können über die Situation der Flüchtlinge, der Migrant_innen und über die Aktionen und Reaktionen der Deutschen auf die Tatsache, dass da Menschen die Grenze zur EU überschreiten, in die Städte kommen und vermutlich mittel- oder langfristig bleiben werden, eine Frage wird so gut wie nie gestellt. Warum sehen wir gerade ein starkes Anwachsen der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland? Komische Frage vielleicht, na wegen der vielen Flüchtlinge! Und weil in Deutschland Fremdenfeindlichkeit nun ‚mal zur Normalität gehört.

Es kann zwar die ganze Story sein, dass die Deutschen/Nazis durchdrehen, wenn sich auch nur ein paar Nicht-Weiße, die auch noch kaum Deutsch können, nahe des eigenen Vorgartens niederlassen. Das gilt aber nur für wirkliche Nazis, für ausgesprochene Rassist_innen, die den Flüchtenden und denen, die sich ihnen hilfreich zeigen wollen, Gewalt androhen oder zumindest Gewalt herbei wünschen oder sie einfach beleidigen. Für Leute, die ihren Hass kaum kaschieren und in ihrem Kampf gegen die Deutsche Sprache bei jeder Verlautbarung kläglich scheitern.

Anders die, die mehr auf den Geist zu fallen vermögen, die jovial und rational argumentierend ihre Ablehnung von „Flüchtlingsströmen“ kund tun. Sie weisen auf Realitäten hin, sprechen von begrenzten Ressourcen und mangelnder Machbarkeit sowie Motivation bei der autochthonen Bevölkerung, weisen dabei weit von sich, rechts oder Nazis zu sein und fühlen sich auch ohne jede Reaktion von anderen latent diffamiert. Warum nun müssen wir immer häufiger Kommentare aus dieser Ecke lesen oder hören? Driftet die Mitte der Gesellschaft nach rechts? Sprudeln nur alte und tief sitzende Ressentiments beim erst besten Anlass heraus?

Es mangelt nicht an ehrlicher und moralischer Empörung über diesen verbrämten Hass. Aber woher rührt er? Was rührt ‚uns‘ an, dass wir so auf flüchtende Fremde reagieren?

Vielleicht hat das Dissent Magazin eine der weiseren Entscheidungen im Blätterwald getroffen und einen Artikel von Seyla Benhabib repostet, der im Jahr 2002 veröffentlicht wurde: In Search of Europe’s Borders. Während die Analyse der Ursachen von Xenophobie im deutschsprachigen Raum bislang nicht über die Feststellung zunehmender Prekarisierung von Arbeits- und Anerkennungsverhältnissen auch in der Mitte Gesellschaft hinaus kommt öffnet Benhabib den Blick für weitere Zusammenhänge.

Die Debatte um Migration, Asyl und Flüchtlingshilfe dreht sich im erstaunlichen Maße um soziale Maßnamen. Es geht ums Geld: Was kosten Rettung der Flüchtenden aus dem Mittelmeer, ihre Erstaufnahme, Erstversorgung, Asylverfahren, Unterkunft und weitere Unterbringung? Welche soziale Rechte wachsen ihnen per Taschengeld, Gesundheitsversorgung und (notdürftigem) Obdach zu? (Hier findet sich eine große Schnittmenge mit den Wir-sind-nicht-das Weltsozialamt Parolen der Neo-Nationalsozialisten.) Dabei liegt im Hintergrund das Thema Staatsbürgerschaft. In modernen Staaten, so Benhabib, prägen nationale Identität, politische Rechte und soziale Teilhabe das Verständnis von Staatsbürgerschaft. In Europa, so dürfen wir hinzufügen, steht es um die kulturelle Identität in der Zeit offener Binnengrenzen, stark gestiegener räumlicher Mobilität und freier Wohnortwahl schlecht (das betrifft eine gemeinsame, europäische Identität sowie eine eindeutige nationalstaatlich gebundene Identität, wie Benhabib betont). Da mag der CSUler Markus Söder noch so sehr eine aus der Luft gegriffene „kulturelle Statik einer Gesellschaft“ apostrophieren. Die politischen Rechte sind hingegen aufs Wahlrecht beschränkt und von Elitenskeptizismus überlagert.

There is a general concern that contemporary citizenship is defined less by political responsibilities and participation than by the entitlement to social benefits and privileges. Against the background of falling electoral participation rates and the ossification of established party mechanisms, political citizenship appears obsolete.

Warum nun aber sehen es die deutschen Vorstadtverteidiger_innen nicht ein, dass dahergelaufene Kriegsflüchtlinge mirnichts, dirnichts deutsche oder europäische Staatsbürger werden angesichts ihrer (oft von den Einheimischen imaginierten) sozialen Teilhabe? Weil sie mit stark gestiegenem ökonomischen Druck und mangelnden Anerkennungsverhältnissen innerhalb unserer Gesellschaften leben müssen, so ließe sich auf die oben erwähnte Ursachenforschung zum Fremdenhass zurück kommen. Jedoch fehlt ein strikter Beweis, dass tatsächliche oder angedrohte Armut die Betroffenen (moralisch) verrohen und zu latent aggressiven Phobiker_innen werden lässt. (Die Schwierigkeiten mit einem allzu eindimensionalen Anerkennungsbegriff lasse ich ohnehin außen vor.) Vielmehr fehlt in den gängigen, meist allenfalls vorbewussten Begriffen von (Staats)Bürgerschaft ein politisches Verständnis derselben. So lässt sich in der Debatte um Migration und Asylrecht die Vernachlässigung der politischen und kulturellen Dimensionen zugunsten der monetär-sozialrechtlichen verstehen.

Hannah Arendt hat einmal die These vertreten, dass Menschen, die der politischen Teilhabe beraubt sind, sich auf soziale Ansprüche an den Staat kaprizieren. Stellt sich die Frage, ob genau dies das heutige Modell der Staatsbürgerlichkeit ausmacht. Kulturelle Identitäten lassen sich kaum noch verteidigen, weil sie nicht einmal klar und konkret definiert werden können. Moderne Nationalstaaten haben rein deskriptiv gesehen ohnehin eine multikulturelle Gesellschaft. Wie steht es aber mit der politischen Teilhabe? Benhabib konzentriert sich in dieser Frage auf das Wahlrecht und stellt fest, dass in Europa mindestens drei verschiedene politische Stände existieren: die einheimischen eines Nationalstaats mit vollen politischen Rechten, die Bürger anderer EU-Staaten mit stark verminderten Möglichkeiten der politischen Einflussnahme und Menschen ohne EU-Staatsbürgerschaft, die überhaupt keine politische Teilhabe wahrnehmen können. Das Wahlrecht (und hinzunehmen könnte man noch die innerparteiliche Demokratie) dimensioniert dieses Thema jedoch zu eng.

Zwar drücken viele Leute ihr Gefühl aus, dass ihr Kreuzchen in der Wahlkabine genau so wenig ändert, wie ihre Meinung vom journalistischen und politischen Establishment gehört wird. Aber auffällig selten wird dazu auch eine wirkliche Meinung präsentiert. Lieber wird über Diedaoben gesprochen und gelästert. Das, so meine Hypothese, liegt wiederum daran, dass die meisten Menschen dieses Schlages (männliche oder weibliche Angestellte der Mittelschicht, mit oder ohne Hochschulabschluss, in der Lage ganze Sätze zu formulieren und mit einem Mindestmaß an familiären Bindungen, was immer das sein mag) die Probleme durchaus kennen, die unter den Nägeln brennen, aber nicht wissen, wie sie das Richtige in die Tat umsetzen, ja leben sollen. Mag es dabei um den Wandel der Arbeitswelt gehen – Stresssteigerung ohne Lohnausgleich aber mit verstärkter (Lern)Disziplinierung und gleichzeitiger Sinnentleerung der Tätigkeiten selbst –, Fragen der richtigen Kindesaufzucht – wann in die Kita, wie sollen sich Väter beteiligen, was ist mit den Computern, was können die nicht-queeren von den Queerfamilien lernen, warum werden Alleinerziehende so allein gelassen –, um den Klimawandel, den Umgang mit der Natur und den Tieren – die Massentierhaltung – oder um die Verteilung der Zeit und Lebenszeit – auf Beziehungen, Medien, Job, Karriere, Kinder, Naturgenuss, Hobbys, geldlosem Wissens- und Erfahrungsaustausch und das Nichtstun; die meisten Menschen haben konkret gefragt nicht immer die schlechtesten Antworten. Viele haben genug vom Terminstress, ubiquitärem Lärm in den Städten, schlechter Luft, schlechter Stimmung, Staus, von Schule, Büro, Krankenhaus oder Fahrkabine. Nur ihren eigenen Stand in der Gesellschaft und in der gemeinschaftlichen Organisation und Bestimmung des Zusammenlebens können sie nicht orten und vermuten ihn daher irgendwo zwischen unten und draußen. Die Hypothese lautet daher, dass eine moralisch-ethische oder kognitive Desorientierung der Menschen weit überschätzt, die politische hingegen weit unterschätzt wird.

Die ältere Theorie hat behauptet, das Ressentiment, darunter der Fremdenhass, nähre sich von der Verschiebung der Unterdrückung und Kanalisierung der Bedürfnisse vom Vater auf anonyme Mächte. Genannt seien neben einer herrschsüchtig gewordenen Rationalität das Kapital, der Trust, die Bürokratie und die häufig fälschlich im Verdacht stehende soziale Disziplinierung. Heute schimmert allmählich durch, dass das Ressentiment mit der Unsicherheit darüber wächst, wie das Richtige (gemeinsam) gelebt werden kann. Das beginnt beim auch ökonomisch erfolgreichen Abschied vom System der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, geht weiter mit der Befreiung der (sexuellen) Bedürfnisse von Sünde, Strafe und Scham – wohin die Reise auch immer gehen mag – sowie der richtigen Behandlung der Migrant_innen dieser Welt (anzukommen braucht viel, viel Zeit) und endet bei der Umorientierung der Ökonomie hin zur geldlosen Wertschätzung von Wissen und Eindrücken, die erst in den Kinderschuhen steckt. Die Flüchtenden mögen an sich unvertraut sein, mit ihrer Herkunft aus Krieg und Armut eigene Ängste repräsentieren, vor allem aber kann ihnen unterstellt werden, dass sie alleine durch ihre Wanderungsbewegung, ihre Mobilität die Suche nach dem richtigen Leben repräsentieren, also genau das, was den weißen rationalisiert HassendenAsylkritiker_innen hier fehlt. Migrant_innen werden als das gehasst, was einem oder einer selbst verbaut und verborgen wird. Natürlich irrtümlich, denn sie suchen wohl in erster Linie Schutz, Ruhe, Erholung und vielleicht ein wenig monetäres Einkommen. Sie wissen es auch nicht besser.

Erst wenn die Staatsbürgerschaft, oder was immer ihr folgen mag, wieder belebt wird mit Auseinandersetzungen um das richtige Zusammenleben in Bezug auf die genannten Themen der Zeit, wenn sich die politische Teilhabe auf diese Auseinandersetzung erweitert und die Leute dadurch in die Lage versetzt werden, Erschöpfung und Überforderung in kreative Lebensformen zu überführen und mit den dabei naturgemäß enstehenden Streits zurecht zu kommen, kann das Ressentiment wieder geschwächt werden. Dann werden Ein- und Ausschlüsse in und aus Gemeinschaften weniger wichtig als ihre konkrete Formung und die Bestimmung ihrer lebensweltlichen Koordinaten. Es gibt Hoffnung, aber ohne Beteiligung wird sie sich weiter in Ängsten, Projektionen und pauschaler Ablehnung anderer wandeln wie Wein in Essig.

Zu den Voraussetzungen progressiver Gemeinschaften

Disclaimer: Dies ist kein Text gegen Anarchismus, gegen Marximus oder Open Source Software. Ich bestreite nicht die enorme Wirkung von Vorurteilen und aus ihnen folgender Diskriminierung auf die in Rede stehenden Communities. Vielmehr halte ich jene für den wichtigsten Grund ihrer schmerzlichen Homogenität. Mir geht es um die Frage, welche ethischen Voraussetzungen menschliche Zusammenschlüsse haben, die ein progressives, ja radikales Selbstverständnis haben, um ihre Aktivitäten durchführen zu können. Beispiele wären Lesekreise, politische Arbeitskreise, Newsgroups oder Kunstfreundinnen; mehr oder minder feste Gruppierungen, denen um die Sache selbst geht. Sie tragen oft ihre eigenen ethischen Vorausetzungen in einem Selbstbild der Verpflichtung zu dieser Sache ohne Ansehen der Person nach außen, denn alle Ablenkung von dieser Verpflichtung muss vermieden, gar bekämpft werden. Wie aber können diese Voraussetzungen besser verstanden werden, als radikal in der Sache eben durch den Schutz der Person? Dies ist also ein analytischer Text.

Seit einiger Zeit arbeite ich als Programmierer. Als solcher will und muss ich regelmäßig Tech-Blogs lesen, auf denen hauptsächlich über Programmiersprachen, -techniken und vor allem einzelne Features von Programmierwerkzeugen (wie einem Texteditor) oder sogenannten Frameworks geschrieben und diskutiert wird. (Frameworks bestehen selbst aus Code und bilden die Basis der eigenen Software in Form einer Sammlung von Funktionen, die sehr hilfreich dabei sein können, ein konkretes Programm zu schreiben.)

Neulich stolperte ich über einige Artikel, die sich mit der (Kommunikations)Kultur in der Open Source Community beschäftigten. Open Source meint, dass der Code eines Programms frei ersichtlich, das heißt in der Regel auf Internetseiten abrufbar ist und daher von beliebig vielen Leuten verändert und verbessert werden kann. Das dient – technisch – der Fehlerkontrolle und -ausbesserung sowie allgemein einer besseren Verbreitung von Wissen und technischen Fähigkeiten. Anders proprietäre Software (wie Adobe Photoshop oder Googles Suchmaschine), die wir nutzen können, über deren ‚Quelle‘ wir aber nichts lernen können.

Kernaussage von Beiträgen wie The Life Cycle of Programming Languages von Betsy Haibel ist, dass die sich avandgardistisch und anarchisch gebärdende Szene der Hacker und Open Source Software contributer gerade weil sie beahauptet, gegen den moralisch unterdrückenden Mainstream zu stehen, offen für menschen- und lebensverachtende Haltungen sowie besonders empfindlich gegen Versuche ihrer Aufklärung sind. Es geht in diesen Communities vordergründig nur um guten Code, um Verdienste guter Arbeit und um die Verbesserung derjenigen Softwareprodukte, die alle nutzen und von denen alle profitieren können. Echte gemeinsinnige Arbeit im Dienste der Freiheit und Produktivität. Dabei, so hören wir aus den Communities, kann es verbal durchaus harsch zugehen, wenn nämlich eine Programmiererin eine andere und vor allem ihre Werkzeuge oder ihre Ansichten und Arbeitsmustern kritisiert.

news.ycombinator thread on node.js
Der Anfang einer Debatte über node.js, mit unhaltbaren Beschuldigungen.

Aber die offene Diskussion einschränkende Regeln, wie sie in großen Organisationen (im Amerikanischen für Konzern gebräuchliches Wort) und in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft vorherrschen, sollen hier nicht gelten. Diese bringen das Produkt nicht voran.

Zum einen müssen sich offenen und freiheitsliebenden Hacker-Communities mit einem Brett vorm Kopf herumschlagen: Wer kann nicht Teil dieser Communities sein? Diejenigen, die andere Arbeiten zu erledigen haben. diversity conferenceDie Kinder und Familie zu versorgen haben, die schlechter bezahlt werden, deren Karrieren den Bach runter gehen, weil sie nicht die erforderlichen Überstunden machen können, die schon beim Bewerbungsgespräch aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Orientierung raus fliegen. Solche Umstände nicht zu berücksichtigen heißt, auf mögliche Talente und gute Beiträge zum Code zu verzichten. Das entlarvt die Unschuldsvermutung, dass diese Communities für alle offen seien, die bereit seien, qualitativ hochwertige Beiträge zu leisten. (Code muss mindestens geschrieben, getestet und dokumentiert werden.) Denn man mag vor sich hertragen, dass es auf Nebensächlichkeiten wie Hautfarbe, Geschlecht und familiäre Situation nicht ankäme, faktisch kommt es immer darauf an, weil normale persönliche Vorurteile zusammen mit der unfairen Verteilung an Zeit und anderen Resourcen die behauptete Offenheit zur Farce machen. Am Ende sind es nur junge, weiße Männer ohne großes familiäres Engagement, die die offene Community bilden.

Zum anderen haben wir es mit einem hinreichend generalisierbaren Problem zu tun. Damit meine ich nicht die Trolls, die sich besonders gerne in den offenen und anonymisierten Bubbles (des Internets) einbringen. Auch gegen sie haben Libertäre aller Färbungen wenig Mittel in der Hand, doch das steht auf einem anderen Blatt. Vielmehr dachte ich bei der Lektüre der wunderbaren Artikel an die scheinbare, moralische Neutralität aller um seiner Selbst willen betriebenen Aktivitäten. Sport gilt seit eh und je als moralisch-politisch unbescholten, wissenschaftliche Forschung ebenfalls, denn es geht um Wahrheitsfindung. Hinzuzufügen wären mindestens die Kunst, manche Form politischer Radikalität und eben die Free Library and Open Source Software Bewegung. Mir am besten bekannt sind immer noch der wissenschaftlich orientierte Marxismus und an intellektuellen Leistungen interessierte Arbeitskreise oder Seminare. Beispielsweise gilt als eine mögliche Antwort auf die Frage, warum so wenige Frauen in der universitären Philosophie vertreten sind, dass dieses als Spiel, das um sich selbst dreht, für Frauen weniger attraktiv erscheint als für Männer. Männer brillieren im harten Wettkampf der philosophischen Ansichten, auch wenn sie dieses Feld eigentlich betreten hatten, um andere, nicht philosophische Probleme zu klären. (Z.B. warum sind nicht alle Menschen glücklich? Warum bin ich nicht glücklich?)

Elizabeth Cady Stanton and Susan B. Anthony
Elizabeth Stanton (seated) with Susan B. Anthony. Suffragist movement, with arguable engagement.

David Papineau drückt es so aus: „Most young people come into philosophy […] because they want to address important issues, not to make the next move in a technical exercise. When they discover that they need to dance on the head of a pin to get a job, women and men are likely to react differently. Where many men will relish the competitive challenge and enjoy the game for its own sake, many women will see it as the intellectual equivalent of putting balls in pockets with pointed sticks, and conclude that they could be doing something better with their lives.“

Nun es mag durchaus zutreffen, dass es neben Diskriminierungen und Vorurteilen andere Gründe, geradezu philosophische Gründe gibt, warum in der Philosophie ein Gender-Bias herrscht, warum diese Disziplin bis heute eine männliche geblieben ist. Jedoch vermute ich nicht die schiere Härte der philosophischen Diskukssionen als einen dieser Gründe. Meiner Erfahrung nach werden philosophische Standpunkte (an der Universität) eher nachlässig debattiert, harte Streits entstehen eigentlich eher vor dem Hintergrund politisch-moralischer Differenzen, die wir ja gerade (vermeintlich) neutral gestellt hatten.

Worum dreht es sich dann? Erster Teil meiner Hypothese: das Spiel um sich selbst funktioniert nicht ohne eine Ethik. Sie sei im Anschluss an Texte wie ‚Free as in sexist?‘ Free culture and the gender gap von Joseph Reagle libertarian-anarchic ethic genannt. Hier eine zusammenfassende Passge:

„the libertarian–anarchic ethic is susceptible to hypocrisy and sexism. (By sexism I mean an attitude of inherent superiority and exclusive privilege towards one gender, perhaps with demeaning or derogatory displays towards the other.) For example, [scholar Susan] Herring found that women were labeled as “censors” when they expressed concerns on views about date rape though they did not attempt to exclude others’ views; “Meanwhile, males hypocritically represented themselves as heroic defenders of freedom of expression, even as their behavior showed them to be intolerant of even partial disagreement with their views”. She also found hypocrisy on chat channels and in conversations in which women’s protests were claimed to be censorious and “going too far” in silencing men though “the men can hardly be said to be silent in the discussion, because they contributed 70% of the words overall”.“

Reagle beschreibt das Phänomen trefflich und inspirierend, aber seine Analyse kann erweitert werden. Warum zeigt sich die anarchistisch-libertäre Ethik so anfällig für Seximus? Welches ihrer Inhalte steht für diese Anfälligkeit? Anarchistisch-libertär – das zielt auf individuelle Freiheit. Sie zu schützen und möglichst unabhänigig von jeder Form kollektiver Kontrolle zu machen ist ihr erklärtes Ziel. Was aber soll Sexismus sein, wenn nicht eine Form kollektiver Kontrolle? Hier scheint es um noch etwas anderes zu gehen.

Auf anarchistisch-libertäre Ethiken treffen wir, so der zweite Teil meiner Hypothese, wenn in einem Diskurshabitat (wie einem marxistischen Zirkel, einem Sportverein, einem Hacker-Newsroom) das Selbstbild einer heroischen, mutigen oder zumindest beharrlichen Wächterfunktion einer Sache selbst existiert, sei diese Sache die Wahrheit, sportliche oder programmiertechnische Leistung oder was auch immer. Das Engagement im Dienst dieser Sache, so der tragende Tenor dieser Selbstbilder, wird stets von außen bedroht: von Zensur, von Kontollmechanismen, von Diskursvorschriften, moralischen Regeln und institutionell initiierten und durchgeführten Reformen. Die ganze Universtätsreform (Stichwort: Bologna) gerät in den Augen mancher Wissenschaftler_innen zu einer vielarmigen Krake, die die reine und unschuldige Suche nach der Wahrheit zu ersticken droht. Unzählige weitere Beispiele könnten folgen.

Besonders in dem hier besprochenen Zusammenhang fällt das ramponierte Image persönlicher Rücksichtnahme aus Sicht anarchisch-libertärer Selbstbilder auf. Auf persönliche Eitelkeiten und angebliche Verletzungen könne man hier keine Rücksicht nehmen, es gehe um die Sache selbst, um Wahrheit, das Kapitalverhältnis oder den jeweils besseren Algorithmus. Im Gegenteil, alle persönliche Rücksichtnahme stehe im Dienst des Rückschritts, der spießig-bürgerlichen Verschanzung hinter Scheinwahrheiten (überhaupt hinter Schein) und würde mit Verdrängung, Verleugnung und Ausbremsung des Fortschritts unter einer Decke stecken. Wobei Vorsicht geboten ist. Ich will nicht wieder nur darauf hinaus, dass die Debatten in anarchisch-libertären Zirkeln so besonders und unangehem hart seien. Haben wir es hier nicht vielmehr schlicht mit einem anarchistischen Irrtum zu tun?

Es liegt nahe, die Freiheit der Gedanken und viel stärker noch die Freiheit der Worte mit der Abwesenheit von Kontrolle erlaubenden Regeln zu verbinden. Offen gesprochen wird nur, wo gewisse Rücksichtnahmen gefallen sind, vielleicht sogar nur mit sich selbst, in jedem Fall aber nicht, wenn stets und ständig darüber gewacht wird, ob Aussage X oder Y nun (moralisch-sittlich) korrekt gemacht worden sind. Es geht darum, Dinge auszusprechen, die das Gesetz (also der Vater) verbietet auszusprechen. Auf diese Weise kommt aber nur die halbe Wahrheit ans Licht. Wenn der Blick allzu starr auf Vorschriften, Gesetze, Autoritäten und die Unterdrückung der Freiheit gerichtet wird, kann ein wenig Misstrauen nicht schaden. Umgekehrt gilt nämlich, dass gerade Rücksichten die Freiheit des Wortes stärken. Wann trauen sich Leute, offen zu sprechen – wenn sie gerade nicht mit sich selbst sprechen? Wenn ihre Worte mit distanzierendem Respekt behandelt werden. Wenn die Zuhörenden nicht sofort eine Replik parat haben und bereit sind, wenigstens ein Stückchen den Weg der sprechenden Person (gedanklich und emotional) zu folgen.

Mit anderen Worten, wer wirklich an der Wahrheit, an der Freiheit zur Wahrheit interessiert ist (oder an guten Progammen, an mutiger Kunst oder, oder, oder …), braucht Voraussetzungen, die die wahrheitssuchenden Worte alleine nicht schaffen können, braucht die beteiligten Personen. Diese müssen sich beteiligt fühlen, engagieren und gleichzeitig um der Wahrheit selbst willen die Personen, die sie suchen, vor persönlichen Angriffen schützen. Person und Wahrheit (oder welches reine, hehre Ziel auch immer) voneinander zu trennen, hat durchaus seinen Sinn und produktiven Effekt, aber nicht derart, dass jede gegenseitige Kontrolle (scheinbar) abgeschafft wird, sondern in der Variante des Bewussteins der persönlichen Präsenz beim Sprechen und Zurückhaltung beim Hören.

encounter between cat and reptile
An Encounter

Verletzungen und Kränkungen dienen nicht der Wahrheitsfindung, lavierende Angst vor Zensur ebenfalls nicht, aber gerade die Vermeidung von Einengung der Worte durch angespitztes auf die Pelle Rücken bildet einen nicht unerheblichen Teil des Rahmens für geistig-seelische Innovation.

In einem solchen Rahmen wäre es möglich, die existierenden Kontrollmechanismen und Sitten kritisch unter die Lupe zu nehmen. Es geht nicht darum, die düsteren Anteile sittlicher Kontrolle auszublenden oder gar zu behaupten, ehrliche Worte in einer Replik seien an sich potentiell verletzend. Hörende sollten generell versuchen, persönliche Empfindlichkeiten so weit wie möglich zugunsten der Entfaltung des Wortes der anderen zurück zu stellen. Jedoch gilt das namentlich für den Impetus aggressiv zurück zu schlagen und für die Neigung, scheinbar nur reaktiv auf Begriffe wie Zensur, Unterdrückung der Freiheit oder political correctness zu rekurrieren.

Gruppierungen, Zirkel, Zusammenschlüsse oder Arbeitskreise, die ein ganz besonders progressives Selbstbild pflegen, im Dienste irgendeiner Sache zu stehen vermeinen und sich durch die Verteidigung von persönlicher Freiheit und Offenheit definieren, leiden leicht unter der Leugnung ihrer Voraussetzungen. Sie mögen sich gerade wenige Gedanken zu ihrer Methode machen – durchaus gelegentlich erfrischend – und zahlen dafür den Preis des schnellen Erliegens der Verdachtshuberei. Stets meinen ihre Mitglieder (in welchem formalen Sinne auch immer), sie müssen eine Freiheit gegen die Unterdrückung der Worte verteidigen, wo sie doch diejenigen Personen schützen sollten, die versuchen ehrliche und gelegentlich radikale Worte zu finden.

Natürlich kann auch eingewendet werden, dass, wenn hier die progressiven Zirkel gegen sich selbst verteidigt werden, ihre Arbeit für dauernde Optimierung, Erweiterung des Wissens und Vermehrung der Möglichkeiten mitnichten einer echten Progression dient, die doch eher in der Entdeckung einer neugierigen Faulheit liege.

Touché. Alle uns bekannten Wege der Progression und des Fortschrittes in der Sache selbst mögen selbst in ihren radikalsten Formen keinen Ausweg aus der geistig-kulturellen Krise bieten. Wir kennen Kapitalismus, Disziplin, Steigerung/Wachstum und Optimierung. Was danach kommt, bleibt eine große Unbekannte. Vielleicht führt aber auch die verzweifelte Suche nach dem ganz anderen in die Irre und lässt manches Pflänzchen der Hoffnung übersehen.

#merkelstreichelt – Flüchtlingspolitik oder -abwehr?

Angela Merkel hatte heute ihren großen Auftritt im Internet. Für ein weinendes Mädchen aus dem Libanon, das in einer SchülerInnenrunde saß und eben über ihre Situation als nicht anerkannte Flüchtende in Deutschland erzählt hatte, unterbrach sie ihren Satz, ging auf das Mädchen namens Reem zu und streichelte sie. Nicht ohne vorher zu betonen, dass nun mal Leute wie sie abgeschoben werden müssten, weil einerseits der Libanon so irre sicher ist, andererseits die Flüchtlingslager dort so voll sind, dass sich in Deutschland niemand um so viele Menschen kümmern könnte. (Aber im Libanon können … – nun gut.)

Manche waren empört, manche zufrieden. Im Allgemeinen geben PolitikerInnen und Kinder zusammen fast nie ein gutes Bild ab. Wer würde schon vermuten, dass die InhaberInnen der Macht die Kinder nicht zu ihren Zwecken ausnutzen. Daher würde ich solche Situationen gerne schweigend übergehen (oder allgemein betrachten), wie ich überhaupt nicht zu den Leuten gehöre, die stets und ständig Frau Merkel analysieren und beurteilen müssen. Als ich jedoch das Video dieser Szene (das Video zu sehen wäre zum Verständnis sicher hilfreich) sah, war ich doch erschrocken und traurig. Warum?

Die F.A.Z. (letzter Link) war der Meinung, dass der NDR die Sache verkürze, das sehe ich eigentlich nicht so. Nachdem Reem erklärt hatte, dass ihr Leben hier einfach mal schei*e ist, weil sie nicht weiß, ob sie überhaupt bleiben kann und sie in dieser Welt der Möglichkeiten (Deutschland, aus ihrer Sicht) auf die Zuschauerbank verwiesen ist, und weil sie genau deswegen zu dem Ort, von dem sie kam, nicht einmal ein Besuchsverhältnis aufbauen kann, äußerte Frau Merkel Bedenken, dass die Asylanträge zu lange dauern. Also: entweder gleich raus oder richtig bleiben. Was zwar erst Mal gut klingt, aber angesichts der Drittstaatenregelung und der Frage nach der allgemeinen Sicherheit eines Herkunftsstaates zu einer faktischen Asylverweigerungspolitik wird, die die Tatsache der Migration zu leugnen hilft. Als dann nach diesem 2-3 Minutengespräch die Fragerunde weiter gehen sollte, Merkel aber bemerkte, dass Reem weinte, ging sie auf sie zu und sprach ihr spontan Mut zu: es sei wunderbar, wie sie das gemacht hätte und allen Leuten die Situation einer nicht anerkannten Flüchtenden erklärt hätte. Die F.A.Z. transkribiert Merkels Versuch die Situation zu klären so:

[Merkel, noch zum Moderator:] …das weiß ich, dass das eine belastende Situation ist und deshalb möchte ich sie trotzdem einmal streicheln, weil ich, [Wende zu Reem] weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast und weil du ganz toll dargestellt hast für viele viele andere, in welche Situation man kommen kann, ja?

Ich erlaube mir hier mal zwei Schlussfolgerungen.

  1. Frau Merkel hat eine sehr gute Auffassungsgabe. Sie hat sofort verstanden, dass es für Reem darum ging, ihre Worte auszusprechen (zumal vor diesem Publikum) und dass sie nun diesen Druck, diese Aufregung los geworden war. Deshalb hat sie sie so eindringlich für ihre Worte gelobt und versucht, Trost zu geben. Auf dem gleichen Blatt steht, dass sie die Situation sofort mit einem auffordernden „ja, ja?“ beenden wollte. Ihren Standpunkt und ihr Denken hat sie ganze Sache in keinster Weise angerührt. „Merkel hält Hof und sagt an. Zuhören ist nicht ihre Stärke“, erklärt Johnny Haeusler ihr Interview mit LeFloid. Hier zeigt sich eines der Grundprobleme der politischen Klassen: erstaunliche Fähigkeiten wie Auffassungsgabe, zwischenmenschliche Situationen einschätzen können, Klugheit oder Beharrlichkeit paaren sich mit etwas, was oft Beratungsresistenz genannt wird. Dahinter steckt ein Mangel an Offenheit, Offenheit für Eindrücke, speziellen Erwartungen oder gar Meinungen und Haltungen anderer. Dieser Mangel wird hinter der Phrase versteckt, dass PolitikerInnen nun mal das große Ganze im Blick haben müssen, das Bestmögliche für alle (und nicht zuletzt für das eigene Wahlvolk) erreichen müssen.
  2. Diese Haltung (‚wir können hier ja nicht allen eine Extrawurst braten‘) bildet wohl auch den Hintergrund für den enormen Druck, unter dem Reem zu stehen schien. Sie fragte eben nicht nach schnellen Internetverbindungen, nach TTIP oder einheitlichem Abitur. Sie fragt danch, warum sie in Deutschland eigentlich kein Leben führen kann oder darf. Es geht ums Ganze für sie, um ihre ganze Zukunft. Diese wird ihr in diesem Land, in dieser Gesellschaft verweigert, zumindest zugestellt und schwarz gemalt. Verantwortlich für ihre Tränen, so untertelle ich mal dreist und aus der Ferne, ist nicht der Umstand, irgend etwas etwas gesagt zu haben, sondern die Tatsache, dass in Deutschland viel zu wenige bereit sind, anzuerkennen, dass Menschen sich bewegen, den Ort wechseln, dabei ihre Geschichte und Bedürfnisse mitbringen und sich dabei ungerne ihre Möglichkeiten von Pässen und Aufenthaltsstati verhageln zu lassen.

Inflationierende Ismen

Manchmal hilft ein Blick in den Duden um Gedanken zu klären. Inflation ist natürlich einfach die (Geld)Entwertung. Mich beschlich beim Lesen von Artikeln, Blogposts und Facebookeinträgen in letzter Zeit das Gefühl, dass die Art der Verwendung von Worten wie Sexismus, Rassismus, Ableismus usw. eben diese Worte verwässert und nahezu bedeutungslos macht.

Allerdings geht es nicht so sehr um die Quantität ihrer Verwendung, zumal der letzte Grund, dass das Wort Sexismus in der sogenannten breiten Öffentlichkeit zu hören war, Rainer Brüderle gewesen sein muss. Mit dem Begriff Rassismus verhält es sich schon etwas anders. In jedem Fall besteht das Problem angesichts der tiefen Verwurzelung von Sexismus und Rassismus in den menschlichen Verhältnissen nicht in einer vermeintlichen Häufung ihrer Verwendung.

Noch ein zweiter Fallstrick liegt vor mir: wie leicht neige ich zu Formulierungen wie: ’schon bei‘, ’schon wenn‘ dies oder das vorliegt oder vorgefallen ist, sagen manche Leute … — nein, es kann nicht darum gehen, dass ein Ausdruck des Hasses zu geringfügig aussieht, um den Vorwurf des Sexismus und Rassismus zu erheben. Vielmehr geht es um das Problem, ob Haltungen wie Sexismus und Rassismus überhaupt einen Vorwurf ermöglichen. Als seien sie eine Asympathie wie, ich kann dich nicht leiden, weil du eine nicht-weiße Haut hast oder weil du kein (richtiger) Mann bist. Die sich folgerichtig mit Sensibilisierung, Schulung und vielleicht ein wenig Abwehrkampf beseitigen lässt.

Das gibt es auch. Zur Aufklärung ist hier jedoch eine Unterscheidung angebracht. Rassismus und Sexismus sind etwas ganz anderes als rassistische oder sexistische Diskriminierung. Letztere finden beim racial profiling der Polizei statt, oder wenn eine Frau einen Job nicht bekommt, weil sie ja theoretisch schwanger werden könnte. Leute, die so etwas machen oder verteidigen, haben sicher nicht genug nachgedacht und nachgefühlt, mögen für ihr Verhalten und diskriminierende Regeln in Institutionen pragmatische Gründe geben und ihr Verhalten sollte genau wegen dieser Gedankenlosigkeit und Kurzsichtigkeit abgelehnt und (in futuristischer Perspektive) durch progressive Verhaltensmuster ersetzt werden. Gerade hier kann auch verbal aggressive Gegenwehr mal nicht schaden.

Anders verhält es sich mit Sexismus, Rassismus oder auch dem Antisemitismus. Allein das Suffix -ismus suggeriert, dass es sich bei den genannten Haltungen um halbwegs rationale Weltanschauungen handelt, wie z.B. Liberalismus oder Kommunismus. Dass sie ihres ideologischen Scheins mit Hilfe von Argumenten und einem Gegen-Ismus überführt werden können. Diese Rechnung geht aber so wenig auf wie jede Antidiskriminierungsstrategie, wenn es sich um Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus handelt. (Das Wort Homophobie hat den Vorteil, bereits semantisch auf den Umstand einer Phobie hinzuweisen, die im geringeren Maße rationalisierbar und politisch-moralisch bekämpfbar im Sinne des Stärkens einer politischen Gegenposition ist.) Die Ismen beruhen nicht auf der Tatsache, dass Menschen aufgrund ihrer äußeren Erscheinung anders und vor allem schlechter behandelt werden, als der berühmte weiße, gesunde und heterosexuelle Mann ohne religiöse Zeichen in Kleidung, Frisur etc. Diese Ismen haben eine je eigene Genese, blühen aber gut ohne Anwesenheit ihrer Opfer und mit ihnen kippt jede Schlechter-Behandlung (gegen die sich die Opfer zumindest graduell bewusst wehren können) in affektuelle Verachtung, Entmenschlichung der Opfer, ja möglicherweise in den Versuch, die Opfer zu vernichten. Frauen, Schwarze (Nicht-Weiße), Juden, Transsexuelle, Queere oder Homosexuelle und wahrscheinlich auch Kinder gelten nicht als (volle) Menschen. Sie mögen Objekte wissenschaftlicher Neugier, der Schaulust oder ausgewöhnlicher sexueller Erfahrungen sein, sie selbst zählen jedoch nicht. Schließlich repräsentieren sie für den Istiker etwas, was ihm verboten wurde oder als Teil des Selbst, ja der eigenen Seele verborgen bleiben muss, einen Teil des eigenen Begehrens, zum Beispiel das emotional aufgeladene Puppenspiel des kleinen Jungens (auch: eine Puppe zum Weinen bringen) oder die Weigerung der Juden, sich für die Gemeinschaft zu opfern. Ganz unabhängig davon, was Mädchen wirklich interessiert oder wie sich Juden tatsächlich zu einer Gemeinschaft verhalten, werden ihnen Attribute zugeschrieben, die dem Zuschreibenden lustvoll erscheinen, ihm aber expliziet verboten oder aber (und dies in der Moderne öfter) unheimlich nahe liegen. Besonders gerne wird all das eigene Böse in Frauen, Schwarze, Juden etc. gelegt und es soll mit ihnen vernichtet werden. Das steigert die Gefählichkeit jener Ismen gegenüber der Diskriminierung enorm.

Ich denke, diese Umstände erlauben drei (hypothetische) Schlussfolgerungen:

  1. Opfer von Sexismus oder Rassismus sind nicht unsichtbar. Vielmehr wird ständig über sie gesprochen, wenn auch nicht mit ihnen. Aber die Forderung, sie aus der Unsichtbarkeit ans Licht zu holen, genügt nicht; kein Zitat, keine Erwähnung in einer Literaturliste oder auf die Bühne Zerren gleicht die Folgen dieser Ismen aus.
  2. Sie (die Ismen) haben starke und erstaunliche Folgen für das Selbstbild der Opfer. Ihr Körper, ihr Gesicht, ihre Empfindungen und ihre Gedanken werden genauso affiziert wie die der Sexisten oder Rassisten es von vornherein gewesen sind. Tatsächlich bedeutet weiß zu sein in dieser Welt rassistisch zu sein, aber gerade nicht, weil alle Weißen die Nicht-Weißen schlecht behandeln würden, sondern weil die Grenzen des menschlich Vertrauten noch zwischen den Menschen gezogen wird,¹ weil die Menschen, weiß oder nicht, sich ohne diese Trennlinien ihrer Selbst und ihrer Menschlichkeit (was bedeutet das eigentlich, wo stehe ich?) sicher sein können.
  3. Genau das sagt sich hübsch und klingt nach Anklage. Eine Klage wie: alle anderen … Jedoch genau hier liegt die Crux. Wer kann sich wirklich von diesen Umständen frei sprechen und ebenso frei über andere urteilen? Einerseits bin ich überzeugt, dass sich die große Mehrheit der Leute Mühe gibt, Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus aus ihrem Denken und Fühlen zu verbannen. Auch zum Beispiel Herfried Münkler (sind seine Worte für die Aufregung um Münkler-Watch wirklich interessant genug?), dessen hilflose Ausflüchte, sich nicht mit Frantz Fanon zu beschäftigen, nicht mit noch so viel Theorieaufguss widerlegt werden können. Theoretische Debatten auf der Basis von Rassismus- oder Sexismus-Vorwürfen machen in meinen Augen keinen Sinn. Mit vielen Leuten können solche Ismen nicht diskutiert werden, aber wer über sie debattieren möchte, kann sich trotzdem nicht hinter wolkigen und undurchdachten Phrasen verstecken (Auschluss, Ausgrenzung, Anderssein). Denn andererseits, egal auf welcher Seite der Welten sich ein Subjekt wähnt, es sollte sich stets selbst kritisch in die Diskussion der Option der Verachtung und Entwertung einbeziehen, und über Rassismus oder Sexismus lässt sich theoretisieren, nicht mit ihnen. Selbst ohne den viel geschundenen Satz, ‚wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein‘ zu bemühen, gilt, persönliche Vorwürfe (‚du hast mich schlecht behandelt weil …‘) sind das eine und sollten eigentlich zu einem Moment der Ruhe und zu ernsthaftem Nachdenken führen, Rassismus oder Sexismus sind strukturell in dem Sinne, dass sie zur Zeit das (mit) definieren, was wir alle als menschliches Leben betrachten und gehören von dieser Warte aus untersucht, ohne die eigenen Werte, Gedanken, Empfindungen und Affekte auszuklammern.

Es taugt in dieser Perspektive wenig, Begriffe wie Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus als Distinktionsmittel einzusetzen und sich über andere, angeblich weniger schlaue und reflektierte Leute zu erheben. Der Wert dieser Begriffe sollte wieder gehoben werden: es geht um Entmenschlichung und Vernichtung, um das Grauen und vielleicht die tatsächliche Barbarei. Wer das im Hinterkopf behalten kann – sozusagen den Tod vor Augen – kann vielleicht auch (zumindest für sich selbst) den Wert des menschlichen Lebens ein wenig anheben.

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¹ Na wenn das mal hinhaut.

Über linke Möglichkeiten III: Zum Universalismus der Kritik

Die Beiträge I (Carlo Strenger) und II ((linke) Idenität) dieser kleinen Serie verhandelten Strengers Sorge um universalistische Kritik und Verteidiung der (wohl bürgerlichen) Freiheit in Zeiten des Rechtsrucks und des Terrorismus sowie um (radikal) linke Identitäten heute. Nun geht’s um die Wurst: können Linke ihre Kritik universalistisch formulieren, können sie irgendetwas als Ihres gegen alle möglichen Anfeindungen verteidigen?

Zunächst ein kurzer Blick zurück, was wollte dieser Carlo Strenger von uns? Er wollte, dass die Linke (in Israel, aber nicht nur dort) wieder in der Lage kommt, die Verteidigung der westlichen Lebensform zu übernehmen und sie nicht dem rechten Lager zu überlassen, das seinerseits selbst die grundsätzlichen Regeln der Kritik nicht beachtet. Als da wären:

  • Überzeugungen können kritisiert, gar verachtet werden, Menschen nicht
  • Kritik muss auf Sachkenntnis beruhen, nicht auf bloßem Dafürhalten
  • Kritik muss grundsätzlich allen und bezüglich aller Hypothesen erlaubt sein

Im ersten Beitrag sagte ich nicht mehr, als dass diese Position nur recht altbackenen kritischen Rationalismus bietet. Altbacken einerseits, weil sogar die simpelste Reflexion auf die Grenzen der Sachlichkeit fehlt. Sachbestände oder Tatsachen gaukeln Objektivität vor, sind jedoch stets ihres Kontextes beraubt, stellen sie doch immer nur einen Ausschnitt von Fakten dar. Besonders Statistiken sind diesbezüglich mit Vorsicht zu genießen. Jedoch solche und weiter gehende Fragen zur Objektivität von Sachbeständen können aus Strengerscher Sicht auch zurück gewiesen werden. Niemand behauptet, Tatsachen wie Billardkugeln in der Hand zu halten, Sachlichkeit und Objektivität stellen sich allein dadurch ein, dass Fakten, die wer auch immer in ihrer Argumentation gebraucht, überprüfbar sein müssen. Das ist alles. Den Gegensatz dazu bildet der Glaubenssatz, nicht die Arbeitshypothese, die genutzt wird, um Fakten zu ermitteln, anhand derer sie geprüft werden kann.

Altbacken andererseits, weil Strenger hier einige wissenschaftstheoretische Prinzipen auf politische Debatten überträgt. Was schon innerhalb der akademischen Communities umstritten war und bleibt – zu denken wäre etwa an die hermeneutischen Wissenschaften – soll nun einfach für alle Debatten gelten. Strenger begegnet diesem Problem in seinem Buch „Zivilisierte Verachtung“ mit der These, dass alle in Debatten damit rechnen müssen, nicht die Expertise zu haben und dementsprechend von den Expert_innen nicht beachtet zu werden. Mangels Universalgelehrter sind wir darauf angewiesen, uns auf das Wissen anderer zu verlassen und die Kränkung des weniger Wissens auf uns zu nehmen. Diese Beobachtungen treffen sicher einen Punkt, aber wie steht es mit dem Wissen, das trotz oder gerade wegen des universalen Anspruchs der Wissenschaften unter den Tisch gewischt wird?

Solche Probleme des Universalismus können in einem Blogpost nicht einmal skizziert werden, deshalb konzentriere ich mich auf eine perspektivische Frage: was bedeutet Universalismus für die (radikale) Linke? Der Gegner der verbreiteten Varianten des modernen Universalismus bleibt die Religion „Jede moderne Gesellschaft muss damit zurechtkommen, dass Religionen fürs Erste ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Lebens bleiben werden.“ Carlo Strenger, Zivilisierte Verachtung, S. 68. Etwas resignierter sogar klingt Habermas, wenn er mit Blick auf das gegenwärtige Amerika schreibt, „konfligierende Werteorientierungen – God, gays and guns – haben offensichtlich handfestere Interessensgegensätze überlagert.“ Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2009, S. 122. Dies, nicht ohne im Anschluss über den öffentlichen Vernunftgebrauch religiöser Gemeinschaften im säkularen Staat zu räsonieren.

Aus Sicht der Linken verschiebt sich das Problem etwas. Nicht der aller Kritik enthobene Glaubenssatz (vielleicht der auch), sondern das in den Schatten der Öffentlichkeit gestellte Leben gehört ins Licht gezogen. Was passiert eigentlich auf den Farmen, in den Fabriken und Büros, den Gefängnissen und Krankenhäusern, den Küchen und Schlafzimmern dieser Welt? Es wird gemunkelt: nicht nur Gutes.

Jetzt wäre es an der Zeit, etwas ins Detail zu gehen, doch jede Formulierung verrät schon eine Tendenz. Sprechen wir vom objektivierten Leben? Von Menschen (und Tieren), die zu Objekten, Gegenständen der Interessen, gar des Hasses anderer gemacht werden? Die deswegen unter Klassenhass von oben, erzwungenem Sex, verachtenden Blicken und Kommentaren oder der Missachtung der Tatsache, dass sie überhaupt existieren, leiden und sich in Not den Angreifern bis in ihre Empfindungen hinein anpassen? Kann sich die unterdrückte Kreatur Subjektivität, ein eigenes Leben, Pläne, einen Willen und Respekt oder Anerkennung der eigenen Bedürfnisse erkämpfen? Oder sprechen wir von Kämpfen zwischen Klassen, Rassen, Geschlechtern, zwischen wachsamen Unterdrückten und selbstgefälligen Mächtigen, die die soziale Welt im Fluss halten? Behaupten wir zudem, dass es viele soziale Welten gibt ohne ein Zentrum der Unterdrückung (sei es selbst die Vernunft), wobei sich in manchen dieser Welten die unterdrückte Kreatur ihr eigenes Leben verschaffen kann. Dort kann sie frei von Beobachtung, Bestaunen und Kontrolle ihr Selbst entfalten. Sei es die Frauen- und Lesbenparty, die Landkommune oder gar ein Ghetto. Integration oder Segregation, das ist doch die linke Frage. (Ein wunderbares Beispiel gibt die Textsammlung „To Redeem a Nation. A History and Anthology of the Civil Rights Movement“, ed. Thomas West, James Mooney, St. James (NY) 1993.)

Universalism is a delusion, freedom is really jus abandonment. - F*cking emo-kid
Klodebatte in Oberlin (College?)

 

Ich will und kann es nicht leugnen, ich stehe auf der integrationistischen Seite. Bei aller Berechtigung für geschützte Räume und Gruppen (die ihre eigenen Gefährlichkeiten und Vertuschungen mit sich bringen), letztlich entfaltet sich menschliches Leben durch Offenheit, Verständigung mit anderen, durch ein reflexives Selbstbild, das halbwegs ausgewogen zwischen dem immer auch verfälschenden Blick der anderen und eigenem Fühlen, Denken und Handeln austariert wird. Wenn immer Verständigung mit anderen ins Spiel kommt, gebrauchen wir übergreifende Formulierungen (so wie gerade jetzt), vertrauen auf die Vernunft und Verständigkeit anderer, wägen Gründe und Gegengründe mit Hilfe von Argumenten ab. Das ist die eine Seite der Kritik, einfach die Offenheit für Einwände, für das Spiel mit dem Für und Wider.

Die andere Seite wird oft vernachlässigt, verbogen oder vermieden. Mit der Kritik heben wir etwas ins Licht, geben etwas eine Basis, machen es zum verteidigenswerten Gut. Welches Etwas? Das Leben selbst, oder seine Lebendigkeit, hält die soziale Welt im Fluss. Gerade mit seiner Fragilität und Verletzlichkeit scheint es stets dahin zu streben, anders zu werden. Wir scheinen immer noch was vor zu haben. So missverständlich und verkürzend humanistische Formeln eines Willens sein mögen, der nach Transzendierung strebt, der immer noch einen Entwurf fasst und dabei konstruiert und die Konstrukte realisiert, sie haben einen zumindest verführerischen Kern.

Denn alles Leben gibt sich mit Blick auf den Tod eine Form. Es geht um Ernährung und Verdauung, den Schutz vor Hitze und Kälte, allzu viel Nässe oder Trockenheit, um Partnersuche, die schwierige Bekämpfung von Krankheiten, die Aufzucht des Nachwuchses und den Umgang mit dem Altern. Für menschliches Leben gibt es dabei eben keine konkreten Prägungen oder Lebensformen, die vor Beginn des Lebens fest stehen würden. Diese sind vielmehr kontingent und haben ihre Zeit. Anders gesagt: ob Individuen Kinder wollen oder nicht, vegetarisch leben oder nicht, polyamourös, asexuell oder treu gebunden, all das kann nicht vorweg bestimmt werden. Psychoanalytisch formuliert: menschliches Begehren hat kein festes, gegebenes Objekt, sondern fließt frei, nicht ohne dass es in instabile und sich kreuzende Bahnen gelenkt wird.

Bleiben noch mindestens zwei Fragen offen. 1. Was bedeutet zwei Seiten der Kritik? Handelt es sich dabei nicht um einen Kniff, der zwei Komplexe in fälschlicher Weise vermanscht? 2. Welche gemeinschaftliche Lebensformen bleiben den Linken, mit denen sie sich identifizieren können?

Den zweiten Punkt kann ich hier nicht mehr beantworten; die Nation wird heute nur noch von Betonköpfen hoch gehalten und wurde vielleicht nicht zufällig zusammen mit der Dampflok erfunden. Sie sollte Begegnungen mit anderen einschränken und kanalisieren, nicht sehr erfolgreich, wie sich bis heute erwiesen hat. Alle Stände und Klassen sind nun auch vergangen, nach Adel, Bürgertum und Proletariat steht uns heute nur noch der Mittelstand zur Verfügung, der aber neben (nicht selten durchaus künstlerisch) darstellendem Konsum wenig zu bieten hat. Die Geschlechter nun haben viele Möglichkeiten auf zwei reduziert, sie wirken bei Licht betrachtet unglaubwürdig. Wer glaubt ernsthaft, dass Mädchen nur rosa-weiße Rüschchenkleider und Jungs nur grau-schwarz-dunkelblaue Sweatshirts mögen, dass Mädchen sich nicht fürs Klettern und Jungs nicht für Puppen und Rollenspiele interessieren? Solche Klischees wirken heute kräftig, aber nicht weniger hölzern und einschränkend, eigentlich einschneidend.—Ich weiß ehrlich nicht, in welchem Stand und Habitus ich heute zu hause sein kann.

Der erste Punkt hingegen verlangt eine Klärung. Die zwei Seiten universalistisch-linker Kritik lauten (verdünnt und zugespitzt): zum Kontakt mit anderen, dem Austausch von Blicken, Worten und Argumenten sowie der dafür nötigen Offenheit auf der einen Seite gesellt sich die nicht determinierte Entfaltung von Lebensformen vor dem Hintergrund unserer Bedürfnisse. Wir haben es hier mit zwei Elementen menschlichen Lebens zu tun, das Leben selbst hingegen kann jederzeit als fragil, verletzlich und potentiell ignoriert betrachtet werden. Es bedarf daher des kritischen Schutzes. Die beiden Seiten (oder altmodisch: Ausdrucksformen) des Lebens kommen aber zusammen, indem die Entfaltung der Lebensformen oft die Grenze der Rationalisierung darstellt. In Kontakt mit anderen kommen wir oft dazu, unser Leben zu erklären, Gründe für dieses oder jenes Urteilen oder Handeln anzugeben und zu argumentieren. Dieser Raum der Gründe (Dieter Sturma) bildet einen großen Teil der Verständlichkeit und Verständigung, findet seine Grenze aber am Begehren, am Soma. Alle Lebensformen enthalten einen nicht weiter begründbaren Teil (nicht unbedingt Kern), sie sind nie vollständig erklärbar und auch nicht zur Gänze manipulierbar. Dinge sind gelegentlich einfach so und nicht anders für eine Person. Ich halte es für sehr hilfreich, das anzuerkennen. Vielleicht, so meine Hypothese, wird dann auch den Menschen ein wenig der Druck genommen, sich immer vermehrend zu entfalten, sich stets zu steigern, immer noch mehr Teile ihres Lebens einer allgemeinen normativen Kontrolle zu unterwerfen. Vielleicht beginnen wir dann, Variationen gelegentlich interessanter zu finden als Steigerungen. Womit wir aber letztlich beim mittelständischen Identifikationsproblem wären, eine mögliche Gelegenheit für einen Teil IV.

Andere Eltern, Blitzlicht

Neulich am Strand — es gibt sie, die netten, sympathischen, angenehmen Eltern anderer Kinder. Wir trafen sie sehr kurz, am Strand, ein Pärchen mit einem Kind im Alter etwa unseres Kindes. Sie haben ihr Kind offensichtlich sehr geliebt, ließen es kommen und gehen und strahlten Ruhe aus.

Sie hatten so ziemlich alles vergessen, was ein Kleinkind am Strand brauchen könnte: Eimer, Schaufel, Gummistiefel, Buddelhose. Sehr angenehm unperfektionistisch und dadurch sehr ungewöhnlich.

Das alles sagt nichts darüber aus, ob es bei denen auch mal mit Streit, Weinen und Genervtheiten hoch her gehen mag. Wie schön anregend können aber gerade solche kurzen Begegnungen sein.